USA: Überleben in der Krise
17. Juni 2020"Oh mein Gott, was jetzt?" Das war Tabitha Carsons Reaktion, als sie im März - an einem Freitag, dem 13. - begriff, dass es bis auf weiteres ihr letzter Tag als Aushilfslehrerin sein würde. Die Gouverneurin Kate Brown hatte in Oregon noch keinen "Stay-At-Home"- Befehl erlassen, aber sie entschied sich zur Schließung aller Schulen. Bei leeren Klassenräumen wird kein Ersatz mehr für Lehrer gebraucht. Der Westküsten-Staat hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht viele COVID-19-Fälle zu verzeichnen, aber weil die angrenzenden Staaten Kalifornien und Washington inzwischen als Brennpunkte galten, war Vorsicht geboten.
Zum Glück Ersparnisse
Carson, die seit 2007 als Aushilfslehrerin in der Stadt Eugene arbeitet, findet, ihre Situation könne man noch als relativ gut bezeichnen: Sie hatte Ersparnisse, weil sie immer etwas Geld zurückgelegt hatte - außerdem wurde der Job ihres Mannes bei UPS und der Job ihrer Tochter bei einer Essensausgabe für Bedürftige als systemrelevant erachtet. Carsons Schulbezirk bezahlte - zu ihrer Überraschung - auch noch den Lohn für die Stunden im April, für die sie schon eingeteilt worden war. "Bisher hat das Geld, das ich gespart hatte, meine Ausgaben gedeckt", sagt Carson.
Die 63-Jährige beantragte im April Arbeitslosengeld, hat aber bisher noch keine Antwort erhalten. Als sogenannte "unabhängige Auftragnehmerin" stünden ihr normalerweise keine Zahlungen zu, aber während der Pandemie stellte die Regierung zusätzliche Mittel bereit, um Menschen wie ihr zu helfen. Das Arbeitsamt Oregon (OED) war jedoch nicht auf die hohe Anzahl von Anträgen vorbereitet. Das System, mit dem Anträge erfasst und bearbeitet werden, brach mehrfach zusammen. Ende Mai trat die Direktorin der OED auf Anweisung von Gouverneurin Brown zurück. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits zehntausende unbearbeitete Arbeitslosenanträge. Oregon ist mit diesem Problem nicht allein. Die Arbeitslosenstatistiken dokumentierten im April in vielen Bundesstaaten Rekordzahlen. Nevada steht derzeit mit einer Arbeitslosenquote von über 28 Prozent an der Spitze.
"Ich bin privilegiert"
Carson hofft immer noch, dass ihr Antrag bearbeitet wird. Von ihrer Regierung ist sie enttäuscht. "Die Menschen vor Ort, die kleineren Gruppen, der Schulbezirk selbst, die Stadt Eugene - alle waren besser vorbereitet als der Bundesstaat Oregon oder die Landesregierung als Ganzes."
Ihr Einkommen deckt normalerweise die Telefonrechnung für vier Personen, die Miete für einen kleinen Lagerraum und den gelegentlichen Restaurantbesuch, ein Konzert oder sogar einen Campingausflug. Vom Job ihres Mannes wird die Hypothek für das Haus bezahlt, die Stromrechnung und andere Haushaltskosten. Die beiden leben mit einer Tochter und deren dreijährigen Sohn zusammen. Ihr Haus, gebaut im Jahr 1978, liegt am Ende einer Sackgasse, umringt von Häusern aus den 2000er Jahren, die fast doppelt so viel wert sind.
"Ich bin privilegiert", sagt Carson. Sie hört viele Geschichten von Freunden, die alleine leben und finanziell schwer zu kämpfen haben. Die Carsons können derzeit noch alle ihre Rechnungen bezahlen, und die Aushilfslehrerin hofft, ihren Job wieder aufnehmen zu können, wenn der reguläre Schulbetrieb womöglich im Oktober wieder startet.
"Ich hatte mehr erwartet"
Paul Iarrobino und sein Ehemann leben im Hollywood District von Portland, Oregons bevölkerungsreichster Stadt. Der 57-Jährige organisiert Storytelling-Events - nicht gerade "Mainstream"-Unterhaltung. Iarrobino dachte, er habe ein solides Jahr 2020 vor sich. Er war zu einem prestigeträchtigen Festival eingeladen worden und hatte ein Stipendium in Höhe von Tausenden von Dollar für seine Arbeit erhalten.
Doch dann kam COVID-19. Der darauffolgende Lockdown machte alle seine Pläne zunichte. Ohne Events, kein Einkommen. "Wenn ich alleine wäre, hätte ich jetzt ein großes Problem", sagt Iarrobino. Das Paar kann die Hypothek und andere Rechnungen nur bezahlen, weil Iarrobinos Partner, ein Ingenieur, von zu Hause aus arbeiten kann. Über das Arbeitsamt Oregon sagt Iarrobino: "Es ist ein kaputtes System, das mit Uhu und Klebeband zusammengehalten wird." Im März beantragte er Arbeitslosengeld, aber sein Fall wurde abgelehnt. Im April füllte er erneut einen Antrag bei der Behörde in Oregon aus, diesmal für das neu eingerichtete Pandemie-Hilfsprogramm, dass die US-Regierung verabschiedet hatte. Es soll Selbstständigen und Freiberuflern helfen, die aufgrund des COVID-19-Ausbruchs nicht arbeiten können.
"Ich hatte wirklich mehr erwartet", sagt Iarrobino. "Ich dachte, o.k., es dauert alles länger, aber ich kann anrufen und jemand kann mir helfen." Stattdessen hatte er das Gefühl, dass die Agentur Störungen bei der Telefonanlage und im Computersystem leugnete und Fehler unter den Tisch kehrte. Iarrobino erzählt, er habe zwar E-Mails erhalten, die bestätigten, dass er das wöchentliche Anspruchsformular eingereicht hatte. Bei einem 90-minütigen Telefonat mit einem der OED-Mitarbeiter wurde ihm jedoch kürzlich mitgeteilt, dass die Informationen der Behörde nicht vorliegen würden und die Dateien wohl verloren gegangen seien. "Man verbringt viel Zeit am Telefon in der Warteschleife", sagt er. "Ich habe von mehreren Leuten unterschiedliche Antworten auf meine Fragen erhalten."
"Einige sind selbstmordgefährdet"
Iarrobino ist Mitglied in einer Facebook-Gruppe, in der sich die Bewohner von Oregon über ihre Arbeitslosenanträge austauschen. "Einige Leute dort sind selbstmordgefährdet", sagt Iarrobino. Mitglieder verleihen ihrer Wut über die langen Wartezeiten Ausdruck, andere fragen nach den besten Telefonnummern, um OED-Mitarbeiter zu erreichen, oder wie sie Hilfe von ihren Kongressabgeordneten erhalten können. Während es immer noch viele gibt, die verzweifelt auf eine Antwort warten, hat sich in der vergangenen Woche der Ton einiger Posts zum Positiven geändert. Scheinbar holt das Arbeitsamt langsam auf, denn mehr und mehr Betroffene posten Fotos von Gehaltsschecks oder von Gesprächen, in denen ihnen geholfen wird.
Das von der OED verwendete Computersystem wurde in den 1990er Jahren eingeführt. Obwohl der US-Bundesstaat 2009 von der US-Regierung 86 Millionen US-Dollar (76 Millionen Euro) erhielt, um das veraltete System zu aktualisieren, wurden erst vor wenigen Jahren erste Schritte zur Modernisierung unternommen. Der voraussichtliche Fertigstellungstermin ist 2025. In Kombination mit einer Rekordzahl von über 300.000 Anträgen für Arbeitslosengeld seit Beginn der Coronavirus-Krise hat das OED Probleme, die unerwartete Arbeitsbelastung zu bewältigen. Die Behörde hat versprochen, jeden eingereichten Antrag zu bearbeiten. Sogar die Nationalgarde wurde um Hilfe gebeten. Bürger werden über Online-Webinare und Twitter mit Updates versorgt.
Zwei Monate nach Beginn der Coronavirus-Krise hat sich Iarrobino - nebenbei bemerkt - nicht nur von einer COVID-19-Infektion erholt, sondern auch die Nachricht erhalten, dass sein Antrag endlich bearbeitet wird. Er hofft, dass sein Arbeitslosengeld bald ausgezahlt wird. In der Zwischenzeit hat er gelernt, wie man Online-Meetings abhält und organisiert Video-Chats mit älteren Erwachsenen, um ihnen bei der Bewältigung der Pandemie zu helfen.