"Es gibt zwei parallele Universen in den USA"
5. November 2020DW: Wie ist Ihre Reaktion auf das bisherige Wahlergebnis?
Gayle Tufts: Ein großes Gefühl der Enttäuschung, dass es keine blaue Welle war. Besonders in einem Moment, in dem es über 225.000 COVID-Tote, 17 Millionen Arbeitslose, 28 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung gibt. Ich kann das nicht verstehen.... Sie sehen die Spaltung des Landes; es gibt zwei parallele Universen, die in den "Gespaltenen Staaten" von Amerika existieren, und was der eine glaubt, glaubt der andere nicht. Und ich kann einfach nicht glauben, dass die Entscheidung so knapp wird.
Als Trump vor vier Jahren gewählt wurde, war die Überraschung wirklich groß. Fühlt sich der Schock dieses Mal anders an?
Ha! Ich glaube, ich höre es in Ihrer Stimme - ich höre es in jedermanns Stimme - "natürlich wussten wir, dass das passieren würde". Außerdem: 2020, hören Sie mir auf! Eine schlechte Nachricht nach der anderen. Ich hatte einen kleinen Hoffnungsschimmer. Ich ging um ein Uhr ins Bett, und als ich um vier Uhr aufwachte, war es ein bisschen wie am Weihnachtsmorgen. Ich dachte: "Wer weiß, vielleicht gibt es doch noch Gutes in der Welt; vielleicht wird sich jetzt alles ändern. Aber nein. Es wird so sein, wie es das ganze Jahr lang war, nach dem Motto: "Was erwartest du?"
Können Sie als Komikerin noch über irgendetwas in der amerikanischen Politik lachen?
Vielleicht nicht in der Politik, aber im echten Leben. Zum Glück habe ich sehr lustige Freunde, und ich habe bereits drei Nachrichten erhalten, in denen ich gefragt wurde, ob ich ein zusätzliches Schlafzimmer hätte... Die Leute wollen hierher ziehen. Wegen des Teil-Lockdowns kann ich gerade nicht auftreten, also könnte ich einfach ein Bed and Breakfast für gefrustete Amerikaner eröffnen!
Ein anderer Freund googelte die Worte "wie" und "kann", und die ersten Treffer waren: "Wie kann ich nach Kanada auswandern?" und "Kann ich nach Europa ziehen?". Ich in froh, dass meine Freunde zumindest ein bisschen was Lustiges an dieser Lage finden.
Und es ist noch nicht vorbei. It ain't over till it's over, wie wir sagen. Wir wussten, dass es knifflig werden würde. Trump hat das von Anfang an gesagt. Schauen Sie sich an, was er mit dem Obersten Gerichtshof gemacht hat. Und er sagte, er würde bis vor das höchste Gericht gehen, um die Entscheidung anzufechten, falls er nicht gewinnt. Natürlich wird er das tun, er ist ein Reality-TV-Star, er will gewinnen! Das ist politisch gesehen nicht wirklich wichtig, er muss gewinnen. Das überrascht mich also nicht.
Ich bin nur vollkommen überrascht, dass es ein dermaßen enges Kopf-an-Kopf-Rennen wird. Und Themen, die mir am Herzen liegen... vielleicht lebe ich schon zu lange in Europa, aber niemand spricht über den Klimawandel, nur sehr wenige Leute reden über COVID. Und das, wo seine COVID-Reaktion so katastrophal ist. Ist das den Wählern egal?
Es ist für mich auch sehr beunruhigend zu sehen, dass die großen Wahlthemen - etwa das Recht der Frauen auf Schwangerschaftsabbrüche, oder das, was gerade im Obersten Gerichtshof passiert ist - nicht bei allen ganz oben stehen. Hauptsache, die Steuern werden gesenkt, ich muss nicht so viel Geld bezahlen und habe einen Job. Ich verstehe das, ich verstehe den Wunsch nach Arbeit - ich bin im Moment arbeitslos. Aber trotzdem verstehe ich den Personenkult nicht, ich verstehe den Hass nicht, ich verstehe die Spaltung nicht. Und ich kann nicht verstehen, dass die Leute das unterstützen.
Sind Sie also froh, jetzt deutsche Staatsbürgerin zu sein?
Ich bin so froh, deutsche Staatsbürgerin zu sein! Ich sage schon seit Monaten: Ich bin sehr, sehr glücklich, in einem Land zu leben, das von einer Wissenschaftlerin und nicht von einem Reality-TV-Star regiert wird.
Gayle Tufts lebt seit 1991 in Berlin. Sie wird oft als "Deutschlands bekannteste Amerikanerin" bezeichnet und ist ist eine von der Kritik gefeierte Entertainerin, Autorin und interkulturelle Stimme. In ihren Werken spielt sie oft mit "Denglisch", der Kombination aus Deutsch und Englisch. In ihrem 2017 erschienenen Buch "American Woman: How I Lost My Heimat and Found My Zuhause" beschreibt sie auf humorvolle Weise den Prozess, wie sie nach Donald Trumps Wahl 2016 Deutsche wurde.
Das Gespräch führte Elizabeth Grenier.
Adaption: Sven Töniges