Schmerz und Psyche
19. Oktober 2016"Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit Gewebeschädigungen einhergeht" – so die nüchterne Definition der Weltschmerzorganisation, IASP. Es sind die Rezeptoren, die sich im Nervensystem unseres Gewebes befinden, die uns einen Schmerz spüren lassen. Dass etwas nicht stimmt, werde dann über verschiedene Schaltstellen weitergeleitet, erklärt Gerhard Müller-Schwefe vom Schmerz- und Palliativzentrum Göppingen.
"Die Information geht über das Rückenmark, über den Hirnstamm bis zum Gehirn. Dort wird der Schmerz lokalisiert und interpretiert. Unser Gehirn registriert nicht nur einfach, dass da beispielsweise etwas am großen Zeh ist. Es deutet diese Information sofort als angenehm oder als unangenehm."
Schmerzkontrollsystem
Wenn wir Schmerz empfinden, sind auch die Regionen beteiligt, die für Emotionen zuständig sind. Schmerz ist also weit mehr als nur ein elektrischer Impuls, der im Körper ankommt. Wir verfügen über schmerzleitende Bahnen, die zum Gehirn führen und über sogenannte Schmerzkontrollsysteme. Und die sind eng mit der Psyche verknüpft.
Geht es der Psyche gut, kann die Schmerzkontrolle aktiviert werden. Geht es der Psyche schlecht, wird sie inaktiviert. Das ist beispielsweise bei Trauer der Fall. "In solchen Situationen wird die Schmerzkontrolle abgeschaltet, schmerzhafte Reize werden viel stärker wahrgenommen. Dem Gehirn ist es egal, ob es um seelische Schmerzen geht oder um körperliche", so Müller-Schwefe.
Chronische Schmerzen beeinflussen intensiv das Leben der Patienten und damit auch die Psyche. Der Schmerz steht im Mittelpunkt, die ganze Wahrnehmung konzentriert sich auf dieses quälende Gefühl. Die Psyche entscheidet, wie Schmerz wahrgenommen und erlebt wird.
Akute Schmerzen
Anders als bei chronischen Schmerzen ist die Situation bei akutem Schmerz, zum Beispiel bei einem Unfall. Es kann vorkommen, dass ein Verletzter trotz einer großen Wunde keinerlei Schmerz empfindet. "Wir haben ein ausgeklügeltes Survival-Kit", sagt Müller-Schwefe. "Das Schmerzkontrollsystem gehört dazu. Es kann in Stresssituationen schlagartig aktiviert werden. Deswegen sagen Patienten, dass ihnen nichts weh tut, selbst wenn sie gebrochene Arme und Beine haben und schwerstverletzt sind."
Als Beispiel zieht der Mediziner unsere Vorfahren heran. "Bei einem Angriff durch Tiere hing das Überleben oft davon ab, ob man davonlaufen konnte. Davonlaufen kann man nur, wenn man keine Schmerzen hat." Der Körper sorgt dafür, dass das Schmerzempfinden ausgeschaltet wird – zumindest für kurze Zeit.
Das Schmerzgedächtnis
Bei einigen Patienten sind die Nervenzellen über die Zeit überempfindlich geworden und können nicht mehr abschalten. Das zentrale Nervensystem sendet weiterhin Impulse, auch wenn es die eigentliche Ursache gar nicht mehr gibt. Der Körper reagiert dann auf die kleinsten Reize - beispielsweise bei sanften Berührungen - mit Schmerz.
Wenn wir etwas lernen, müssen wir es oft wiederholen. Das lässt sich laut Müller-Schwefe auf Nervenzellen übertragen. "Fünf Mal fünf wissen Sie sofort, aber bei 17 mal 39 müssen Sie nachdenken. Genauso ist es auch mit den schmerzverarbeitenden Nervenzellen. Erhalten diese Zellen häufig dieselbe Information, verändert das die Steuerung. Am Ende aktivieren bereits geringe Reize das System, und die Antwort kommt prompt."
Das kann so weit gehen, dass gar kein äußerer Reiz mehr notwendig ist, um Schmerz zu erzeugen. Dieser Kreislauf muss unterbrochen werden, damit er nicht endlos abgerufen wird. Medikamente können helfen, aber auch Bilder und Vorstellungskraft, erläutert Müller-Schwefe. "Man stellt sich den Schmerz als dröhnenden Glockenschlag vor. Man steht dicht neben der Glocke auf dem Kirchturm, und das Geräusch ist unerträglich. Dann geht man die Treppe hinunter auf die Straße. Die Glocke läutet immer noch, aber entfernt und nicht mehr so laut."
Phantomschmerz
Wenn Nerven durchtrennt werden – etwa bei einem schweren Unfall - entwickeln diese eine Art Eigenleben. Sie bauen in ihre Membranstruktur neue Kanäle ein, und die gaukeln dem Gehirn gewissermaßen Informationen vor, die aus dem verlorenen Körperglied kommen. "Das ist so wie wenn Sie telefonieren. Wenn die Leitung gut ist, kann ihr Gehirn nicht unterscheiden, ob der Anrufer vor ihrem Haus steht oder über fünf Satelliten aus Neuseeland mit Ihnen spricht."
Das Gehirn kann also nicht unterscheiden, woher die Informationen kommen. Diese typischen Nervenschmerzen können Patienten im Extremfall sogar in den Tod treiben. Schätzungen zufolge nehmen sich mehr als 3000 Schmerzpatienten in Deutschland jedes Jahr das Leben. Umso wichtiger sei es, so Müller-Schwefe, dass Schmerzpatienten einen Arzt haben, der stets ansprechbar ist und Menschen, die einfach Verständnis haben.