Unterwegs in Ungarns Grenzgebiet
28. August 2015Normalerweise kommen sie aus den Waldgebieten entlang der ungarischen Grenze. Regelmäßig passieren Gruppen von zwölf bis fünfzehn Personen die enge asphaltierte Straße nach Asotthalom. Die Einwohner des Dorfes haben sich inzwischen daran gewöhnt, junge Männer, Frauen und Kinder mit Rucksäcken an den Straßen zu sehen. Und sie kennen auch den Anblick von ungarischen Polizisten, die bereitstehen, die Menschen in Gewahrsam zu nehmen. Mehr als 2000 Menschen - die meisten stammen aus Afghanistan, Syrien und afrikanischen Ländern südlich der Sahara - gehen diesen Weg täglich.
Eine weitere Gruppe trifft ein. Es sind mehr als ein Dutzend Männer aus dem Senegal, dem Südsudan und Mauretanien. Bei einem Bauernhof nahe der Straße halten Polizisten Wache. Die Afrikaner erzählen den Beamten bereitwillig, dass sie aus Griechenland geflohen seien. Dort hätten sie mehr als ein Jahr als illegal Beschäftige gearbeitet.
"Es gibt keine Mitmenschlichkeit in Griechenland", sagt ein mit einer gelb-grün-roten Kappe bekleideter Mann mittleren Alters auf Französisch. "Es gibt überall Rassismus. Täglich greifen sie Migranten an. Ob afrikanisch oder orientalisch, sie machen keinen Unterschied. Wir wollten einfach nur raus."
Die meisten Flüchtlinge geben an, nach Deutschland weiterreisen zu wollen. Dort hoffen sie, in Sicherheit zu sein und ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Sorge bereitet ihnen aber, dass sie sich nur in dem EU-Land um Asyl bewerben können, das sie zuerst betreten haben. Die Dublin-Regeln schreiben dies so vor.
Wenig Zuversicht in Budapest
Ungarns rechtsnationale Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orban will sie mit Sicherheit nicht. Um Asylsuchende aus dem Land zu halten, hat Budapest im Juli beschlossen, einen vier Meter hohen und 175 Kilometer langen Zaun an der Grenze zu Serbien zu bauen. Orbans Plan sieht vor, dass ein etwas kleinerer, mit NATO-Stacheldraht bestückter Zaun bis Ende August in den meisten Teilen des Grenzgebiets fertiggestellt sein wird.
Laszlo Toroczkai ist als rechter Hardliner bekannt. Der Bürgermeister von Asotthalom hält einige der Maßnahmen der Regierung für richtig. Allerdings ist er nicht überzeugt, dass sie auch wirken. "Ich habe bereits seit vergangenem Herbst einen Grenzzaun gefordert", sagt er im Gespräch mit der DW. "Ich glaube nicht, dass eine physische Barriere den Flüchtlingsstrom nach Westeuropa stoppen kann. Er wird ihn aber von unserem Dorf ablenken.Ich möchte mein Dorf vor diesen Menschen zu schützen."
Der Bürgermeister gibt zu, dass keinerlei Gewaltverbrechen von den Hunderten Asylsuchenden registriert wurden, die täglich durch Asotthalom reisen. Er befürchte aber, dass sie "exotische Krankheiten" in sein Dorf einschleppen könnten, so Toroczkai. Dies ist einer der Gründe, warum er eine eigene Bürgerwehr aufgestellt hat. Sogenannte Feldschützen, die Flüchtlinge rund um Asotthalom aufspüren und festsetzen sollen, um sie dann der Polizei zu übergeben. "Die ursprüngliche Aufgabe der Feldschützen ist es, auf privatem Gelände für Sicherheit zu sorgen. Die Flüchtlinge essen häufig sämtliche Früchte von den Feldern und zerstören sie. Es ist nur logisch, dass diese Leute sie daran hindern."
Dem Bürgermeister wird vorgeworfen, die "Armee der Gesetzlosen" willkommen zu heißen. Eine kleine, rechtsextreme Bürgerwehr mit engen Verbindungen zur fremdenfeindlichen Jobbik-Partei, die wiederum Ministerpräsident Orban unterstützt. Toroczkai streitet ab, dass die Bürgerwehr an der Grenze ihr Unwesen treibe, räumt aber ein, dass sie Asotthalom einen Besuch abgestattet habe. Viele lokale Bürger würden schließlich aus patriotischem Pflichtgefühl im Grenzgebiet patrouillieren, ergänzt er. "Der illegale Grenzübertritt ist derzeit nur ein kleines Delikt. Bald wird es hoffentlich als Schwerverbrechen eingestuft", sagt Toroczkai und versichert, dass "seine Feldschützen und viele Freiwillige" bereit stünden, die Grenzen rund um die Uhr zu schützen, falls die Regierung dies nicht wie versprochen übernähme.
Erleichterung am Bahnhof
"Hierher! Essen, Wasser! Umsonst!" Ein junger Mann ruft eine Busladung verwirrter Flüchtlinge zu einem kleinen hölzernen Beschlag vor dem pompösen gelb gekachelten Gebäude des Hauptbahnhofs in der südungarischen Grenzstadt Szeged. Der Mann ist einer von vielen, die Toroczkais Ansichten nicht teilen. Er ist freiwilliger Helfer bei "MigSzol Szeged" ("Flüchtlingssolidarität Szeged"), einer Gruppe, die sich über Facebook organisiert, um direkte Hilfe für Flüchtlinge zu leisten.
Während die rund 60 zumeist aus Afghanistan und Syrien stammenden Menschen versuchen, die Straßenbahnschienen auf dem Weg zu dem kleinen Platz zu überqueren, wartet eine Vielzahl lokaler Helfer auf der anderen Seite. Einige führen die müden Neuankömmlinge zu Außenräumen, in denen sie sich waschen und rasieren können. Andere verteilen Sandwiches, die den islamischen Speisevorschriften entsprechen, Früchte und Trinkwasser in Flaschen.
Viele der Flüchtlinge wollen ihren Augen angesichts des kostenlosen Angebots nicht recht trauen. Ein um die zwanzig Jahre alter Syrer versucht, für die Lebensmittel zu bezahlen. Als ihm klar wird, dass die Unterstützung der Helfer nichts kostet, packt er seine Brieftasche wieder ein. Die Lebensmittel und die Kleidung haben Ungarn aus dem ganzen Land gespendet, nachdem die Helfer über das Internet dazu aufgerufen hatten.
Zwischen 40 und 50 Minuten bleiben die Flüchtlinge normalerweise am Bahnhof. Sie ruhen sich aus oder versuchen zu telefonieren, sobald sie ihre Handys in den Läden in der Nähe des Beschlags aufgeladen haben. Viele nutzen die Internetverbindung, die die Stadt Szeged ebenso wie die portablen Toiletten und Waschbecken kostenlos zur Verfügung gestellt hat.
Immer wieder kommen hier Flüchtlinge in Bussen an. Die Flüchtlinge werden dann in die nahen Auffanglager in Röszke und Nagyfa gebracht. Dort müssen sie in der Regel zwei bis drei Tage warten, bis sie ihren Asylantrag stellen können und ihre Zulassungspapiere erhalten. Danach werden sie in eines der weiter entfernt gelegenen Flüchtlingscamps eingeteilt und bekommen ein Dokument, das sie zur kostenlosen Zugfahrt dorthin berechtigt.
Lokale Hilfe
Die Helfer von MigSzol Szeged kennen die Vorgehensweise gut. Die Gruppe kümmere sich täglich um vier bis acht Busse mit jeweils 60 bis 80 Flüchtlingen, sagt Balazs Szalai. Er ist einer der Organisatoren von MigSzol. Mit ihren Hilfsleistungen hatten die Aktivisten begonnen, als Szalai Mitte Juni feststellte, dass einige der Busse die Flüchtlinge absetzen, nachdem der letzte Zug für den Tag bereits abgefahren war. Sie waren gestrandet. Auf dem Bahnhofsgelände zu übernachten war ihnen untersagt.
Die Facebook-Gruppe für Szeged hatte sich aus Solidarität zur in Budapest ansässigen Nichtregierungsorganisation MigSzol gegründet. Um die Lage für die Asylsuchenden erträglicher zu machen, hatten die Aktivisten damit begonnen, Spenden zu sammeln und freiwillige Helfer zu rekrutieren. Inzwischen sind mehr als 2000 Menschen der Gruppe beigetreten. Zudem haben sich 200 regelmäßige und unregelmäßige Helfer gemeldet. Die gesammelten Spenden passen kaum in den großen Lagerraum, den die Gruppe direkt neben einer Obdachlosenunterkunft betreibt.
Die Helfer sind buntgemischt: Die reicht von einem atheistischen Anarchisten bis zu einem lutheranischen Prediger. Maria Volkov, die an der Universität in Szeged studiert, hat fast jeden Tag ihrer Sommerferien freiwillig am Bahnhof gearbeitet. Sie hatte über Facebook von der Gruppe erfahren und wollte unbedingt helfen, nachdem sie Berichte über hilflose Flüchtlinge gesehen hatte, die auf den Straßen schlafen mussten. "Größtenteils schließen sich Studenten an, weil sich die Nachrichten der Gruppe unter uns schnell verbreiten", sagt sie. "Die meisten von uns sind Studenten oder Rentner", erzählt eine ältere Frau, die in dem Beschlag Sandwiches verteilt. "Wir haben genug Zeit dafür. Aber viele andere unterstützen uns auch immer wieder mal."
Auf dem Bahnhofsplatz wird der nächste Zug ausgerufen. Die Helfer bringen die Flüchtlinge zum Gleis, von wo aus sie ihre Reise fortsetzen. Aus Szeged fährt ein großer Teil mit dem Expresszug in Richtung Budapest weiter zu den Flüchtlingslagern in Bicske und Debrecen. Viele sehen diese Reise nur als Zwischenetappe auf ihrem Weg nach Norden und versuchen ihr Glück in der ungarischen Hauptstadt. Andere, die beispielsweise keine gültigen Papiere haben, nehmen normalerweise erst gar nicht den Zug. Obwohl die Weiterfahrt mit Schleppern bis zu 500 Euro und ein Bahnticket nur 22 Euro kostet. Zu groß ist die Angst davor, in der Bahn aufgegriffen zu werden.
Wenn der Zug sich vom Bahnhof in Szeged in Bewegung setzt, melden die Helfer ihren Kollegen an der nächsten Haltestelle im zentralungarischen Cegled, mit wie vielen Menschen sie rechnen müssen. Die freiwilligen Helfer dort versuchen dann sicherzustellen, dass die Flüchtlinge ihren Anschlusszug in das Lager in Debrecen nicht verpassen.