Unterwegs fürs Seelenheil
Pilgern liegt im Trend. Die Motive dafür, sich auf den Weg zu machen, sind so unterschiedlich, wie die Menschen selber. Warum gehen sie den wichtigsten Pilgerweg Europas bis ins spanische Santiago de Compostela?
Auf nach Santiago!
Fred Brodina hat eine Leidenschaft. Einmal im Jahr zieht der Hamburger seine Wanderstiefel an und schnallt sich den Rucksack auf den Rücken. Santiago de Compostela und das vermeintliche Grab des Apostels Jakobus in Galizien sind sein Ziel. Immer wieder zieht ihn der Jakobsweg magisch an. Hunderte Kilometer – zu Fuß. "Das kann sich heute keiner mehr vorstellen", meint Brodina.
Was bringt die Zukunft?
"Ich bin 2006 in den Vorruhestand gegangen", erzählt Fred Brodina, "und hatte die Idee den Jakobsweg zu gehen. Hier konnte ich mir Gedanken machen: Was habe ich richtig, was habe ich falsch gemacht? Was bringt die Zukunft?". Fragen, die heute viele Menschen zu einer Pilgerreise bewegt. Von 1970 bis 1979 wanderten rund 1000 Pilger nach Santiago. Von 2000 bis 2009 waren es über eine Million.
Muscheln und Pfeile
Das Pilgerzeichen der Jakobsmuschel und gelbe Pfeile wiesen Fred Brodina 2006 den Weg. Doch schon weit vor Santiago war Schluss. Der Grund: eine Fußverletzung. "Ich habe meine Frau zuhause angerufen und geheult", berichtet er über die Enttäuschung. "Dann machst du nächstes Jahr weiter", lautete ihre Antwort. Doch Fred Brodina wollte durchhalten und schaffte es bis zum Ziel.
Ein ungleiches Gespann?
Michaela Gercke pilgert seit Jahren gemeinsam mit Fred Brodina. Auf den ersten Blick ein ungleiches Gespann: Der 66-jährige ist Katholik und seine 40-jährige Begleiterin evangelisch. Doch Pilgern verbindet. Gercke kam im Urlaub mit dem Pilgern in Berührung. "Wir haben mit Menschen zusammen gegessen, die auf dem Weg nach Santiago waren", berichtet sie. "Zuerst fand ich die Idee etwas verrückt".
Abstand gewinnen
"Ich wollte bewusst Abstand gewinnen", sagt Michaela Gercke, "und da fielen mir die Pilger von damals wieder ein". Gedacht, getan. Ihr Entschluss zur Pilgerfahrt war getroffen. "Wanderstiefel hatte ich, der Rest war schnell besorgt und dann bin ich los." Über 800 Kilometer legte Michaela Gercke zurück – zu Fuß und allein. "Je länger ich lief, desto besser ging es mir."
Selbstervertrauen
"Ich weiß nicht woher, aber ich hatte das Vertrauen, Santiago zu erreichen", berichtet Michaela Gercke. Zu den körperlichen Anstrengungen sagt sie: "Irgendwann tut nichts mehr weh, der Körper fordert Bewegung." Schließlich kam auch die ersehnte Ruhe. Und die Gedanken konnten schweifen ohne die Sorgen des Alltags.
Religiöse Erfahrung
Rund drei Wochen braucht Michaela Gercke beim Pilgern, um den Alltag zu vergessen. "Dann kommt der Zeitpunkt, an dem man überhaupt nicht mehr denkt", meint sie. "Und schließlich kommen neue Gedanken. Man ist frei und offen". Nachzudenken über die Beziehung zu Gott und wie das eigene Leben gerade verläuft – für all diese Gedanken bieten die Pilgerwege Platz und Zeit.
Pilger aus aller Welt
"Es sind die Menschen, die den Jakobsweg ausmachen", glaubt Fred Brodina. Viele Pilger aus der ganzen Welt sind auf dem langen Weg Richtung Santiago unterwegs. Dem einen nickt man nur zu, mit dem anderen wandert man ein paar Tage, und mit manchen schließt man tiefe Freundschaften. Fred Brodina hat auf diese Weise einen guten Freund in Holland gewonnen.
Ein Gruß an den Apostel
Auch vom Glauben der Einheimischen ist Fred Brodina immer wieder tief beeindruckt. Pilger wie er werden unterwegs von völlig Fremden umarmt. "Sie übertragen ihr persönliches Anliegen an den Apostel einem Menschen, den sie gar nicht kennen. Und der trägt ihren Wunsch für sie nach Santiago", berichtet der Hamburger. "Das bewegt mich sehr".
Eine jahrtausendealte Tradition
Pilgerreisen sind heute weithin beliebt. Auch weniger religiöse Menschen beschreiten inzwischen die Wege zu Wallfahrtsorten. Auf dem spanischen Jakobsweg oder vor der eigenen Haustür. In Deutschland sind das bayerische Altötting und Kevelaer im Rheinland die beliebtesten Ziele. "Auf Luthers Spuren" kann man seit 2008 nach Wittenberg pilgern und durch Hamburg verläuft die "via baltica".
Jeder hat sein eigenes Ziel
Was aber macht genau den Reiz des Pilgerns aus? Jeden Tag Kilometer für Kilometer zurückzulegen, unterwegs auf unbequemen Matratzen auf dem Boden zu schlafen – zusammen mit dutzenden anderen Pilgern. Eine eindeutige Antwort gibt es nicht. Heilserwartung, Erlösung von Sünden oder Selbstfindung - jeder Mensch verbindet etwas anderes mit dem Pilgern.