"Unsere Leben zählen nicht"
11. Oktober 2015"Sie sollen endlich die ganze Gewalt stoppen", fordert der 18-jährige Rasheen Davis, der bei strahlendem Sonnenschein auf dem Weg zur National Mall ist. "Es geht darum, dass schwarzes Leben auch zählt. Schwarze haben sich gegenseitig umgebracht und Polizisten bringen Schwarze um. Wir sind hier, um diese Scheiße zu stoppen!"
Davis ist aus Philadelphia nach Washington gekommen, um mit vielen Tausend Gleichgesinnten unter dem Motto "Gerechtigkeit, was sonst!" gegen Polizeiwillkür und Benachteiligung zu demonstrieren. Andere Demonstranten äußern sich noch radikaler: "Down, Down USA" rufen sie und schwenken ihre Fahnen, nachdem ein Redner auf die Geschichte der blutigen Unterdrückung von Minderheiten zu sprechen kommt.
"Es wird zu einer vulkanischen Eruption kommen"
Doch damit nicht genug - auch der Organisator Louis Farrakhan selbst gibt sich radikal. Der Chef der Organisation "Nation of Islam" hatte schon den "Million Man March" 1995 organisiert. Damals kamen mehrere hunderttausend schwarze Männer zu der Massenkundgebung nach Washington. Zwanzig Jahre danach droht Farrakhan in einer mehr als zweistündigen Rede mit der Katastrophe: "Wir haben jetzt diesen Punkt der Explosion erreicht, es wird zu einer vulkanischen Eruption kommen", prophezeit er unter dem Beifall seiner Anhänger.
Dieser Vulkan könne töten, fügt er vielsagend hinzu. Farrakhans radikale Wortwahl und seine abfälligen Bemerkungen über Frauen hatten schon im Vorfeld der Demonstration für Diskussionen gesorgt. Doch seine Anhänger stehen zu ihm. "Er ist ein machtvoller Mann, ich schaue zu ihm auf, viele schauen zu ihm auf", sagt Lamar Williams, der mit seinem Freund Rasheen Davis nach Washington gekommen ist.
"Nichts hat sich geändert"
Mit der Großdemonstration will Farrakhan an seine sagenumwobene Kundgebung von 1995 anknüpfen, die von vielen als entscheidender Wendepunkt für die Beziehung der Rassen in den USA gesehen wird. Doch das läßt Williams nicht gelten: "Nichts hat sich seitdem verändert", sagt der junge Mann, der zur Zeit eine Ausbildung zum Polizisten macht.
Charles Butler, der schon damals mitdemonstrierte, bestätigt das: "Ich war hier vor 20 Jahren und ich komme zurück, und es gibt immer noch viel Ungerechtigkeit", sagt der 67-jährige Fabrikarbeiter - "nicht nur in Amerika, sondern überall auf der Welt."
"So eine Brüderlichkeit, es war unglaublich!"
Damals beim "Million Man March" hatten sich Hundertausende schwarzer Männer versammelt, um gegen Vorurteile zu demonstrieren und den Stolz auf ihre schwarze Identität herauszustellen. "Jetzt ist es mehr eine Art Volksfest", bedauert Butler und blickt auf Eisverkäufer und Souvenirstände. "Damals gab es eine Brüderlichkeit, ein Zusammengehörigkeitsgefühl, es war unglaublich!", schwärmt er. "Ich habe das nie wieder so in meinem Leben erfahren."
Aber es ging für die jungen Schwarzen damals auch darum, öffentlich ein Bekenntnis zu ihrer Verantwortung für ihre Familien abzugeben. Damit wollten sie innerhalb der afro-amerikanischen Gemeinden ihr ramponiertes Image aufpolieren, erinnert sich Thaia Grace: "Die Leute gingen zu ihren Familien zurück und in die Gotteshäuser, um Sachen wieder gut zu machen. Darum ging es", bekräftigt die ältere Dame, die vor 20 Jahren als eine der wenigen Frauen mitdemonstrierte. Diesmal hat sie aus dem US-Bundesstaat Georgia ihre Familie mitgebracht, darunter den jungen Amir, der sagt, er wolle mehr über die Geschichte des "Million Man March" lernen. "So etwas habe ich noch nie erlebt," meint der Schüler und schaut mit scheuem Respekt auf seine Großmutter.
Sanford, Ferguson, Baltimore,...
Für Amirs Mutter Fasmeen Grace ist die Demonstration eine Art Bildungstour für die ganze Familie. "Wir hatten bisher noch nicht Gelegenheit, darüber mit unseren Kindern zu reden, aber heute können wir damit beginnen." Hier würden die beiden Söhne aus erster Hand von den Ungerechtigkeiten erfahren, die gegenüber Schwarzen begangen wurden. "Wir sehen, dass sich das bis heute wiederholt. Wir haben erleben müssen, dass die Polizei in vielen Orten besonders heimtückische Sachen gemacht hat", sagt sie und spielt auf die lange Reihe von jungen schwarzen, meist unbewaffneten Männern an, die von Polizisten erschossen wurden.
Im Jahr 2014 führte dann Michael Browns Tod zu heftigen Unruhen in Ferguson, die in den USA erneute Diskussionen über Polizeibrutalität auslösten. "Es gab keine Gerechtigkeit für die Menschen, die darunter gelitten haben und die ihr Leben verloren haben", sagt Fasmeen Grace. Das sei eine "große Debatte", die sich durch die Geschichte der Afro-Amerikaner ziehe. "Denn wir scheinen keine Leben zu haben, die zählen", so das bittere Fazit der jungen Frau.
Darrell Faulkner aus Baltimore stimmt in die Kritik ein: "In unserer Stadt haben wir Probleme mit Polizeigewalt. Wir wollen endlich sehen, dass die Leute auf der Seite der Polizei zur Rechenschaft gezogen werden." Doch so düster sieht seine Frau Pamela die Situation nicht. Nach 20 Jahren habe sich einiges gebessert:"Wir haben einen afro-amerikanischen Präsidenten. Ausserdem hat die Obama-Regierung mehr Jobs geschaffen und wir haben ein landesweites Gesundheitsystem", fügt sie hinzu. Dass der Präsident selber nicht auf der Demonstration spricht, nimmt ihm das Ehepaar nicht übel: "Wir hier repräsentieren Präsident Obama - also ist er hier, weil wir hier sind."