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"Unsere Freunde schauen jetzt von oben zu"

23. Juli 2016

Neun Menschen erschoss ein Amokläufer am Olympia-Einkaufszentrum in München. Am Tag danach herrschte am Tatort Fassungslosigkeit. Hunderte trauerten um ihre Angehörigen und Freunde. Aus München Friedel Taube.

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Nach Schießerei am Olympia Einkaufszentrum in München
Bild: DW/F. Taube

Die Sommersonne scheint auf das immer größer werdende Meer von Blumen und Kerzen. "Guili - mit Dir ist ein Teil von uns gegangen" steht da mit jugendlicher Handschrift auf einem Pappschild geschrieben. Und es sind auch vor allem Jugendliche, die jetzt hier herkommen, um zu trauern. Die Straße vor dem Münchener OEZ ist am Tag nach dem mutmaßlichen Amoklauf noch immer gesperrt. Überall liegen sie sich in den Armen, weinen, vergraben ihre jugendlichen Gesichter im T-Shirt, damit niemand von den anderen die Tränen sieht. Teenager, wohin man sieht. Immer mal wieder bahnt sich ein Trupp Polizisten den Weg durch die Menge hin zum abgesperrten Einkaufszentrum, sie gehen die Treppen hinauf, hinter ihnen Spezialisten in weißen Plastikanzügen. Während Spurensicherung und Tatortreinigung noch laufen, ist München in Trauer.

Mit leerem Blick schaut der 16-jährige Arsen auf ein weißes Schild mit der einfachen Aufschrift "Warum?". Er lebt unweit des OEZ. "Meine Mutter hat mich angerufen. Sie hat gesagt, geh nicht ins OEZ, hier ist eine Schießerei und ich bin mittendrin. Ich wollte erst hingehen und sie rausholen, aber zum Glück sagte sie mir dann bald, dass sie in Sicherheit ist." Arsen hat drei Freunde bei der Schießerei verloren, sie kannten sich aus der Schule. Jetzt telefoniert er schon den ganzen Tag herum, schreibt Whatsapp-Nachrichten: "Von vielen meiner Freunde weiß ich noch nichts. Bei manchen hieß es erst, sie seien tot, dann wieder, sie seien im Krankenhaus." Jetzt ist er hier, um Klarheit zu bekommen - und um seiner Freunde zu gedenken. "Ich muss es verkraften. Es geht weiter. Es geht nicht anders." Unwirklich kommt ihm das alles noch immer vor, was er gestern in den Nachrichten gesehen hat. "Einfach nur schrecklich. Wenn du weißt, es ist bei dir um die Ecke passiert, dann ist es schrecklich."

"Er war doch unser großer Cousin"

Neun Menschen tötete der Attentäter, sechs davon Jugendliche, das jüngste Opfer gerade mal 15 Jahre alt. Einer davon war der Cousin des 16-jährigen Sergio. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen, der Blick paralysiert, steht er mit seinem Freund Osman vor der Treppe des OEZ und spricht mit Polizisten. Er will mehr darüber erfahren, wie sein Cousin ums Leben gekommen ist. "Er wollte nur zum Elektrogeschäft, wegen eines neuen Handys. Als er rauskam, hat es ihn erwischt", sagt er. "Meine Mutter hat gestern lang mit unserer Tante telefoniert. Die ganze Familie ist in Trauer. Er war doch unser großer Cousin", sagt er und wendet sich ab - es fällt ihm offensichtlich schwer, über die Tat zu sprechen.

Nach Schießerei am Olympia Einkaufszentrum in München
Fassungslos: Sergio (l.) und OsmanBild: DW/F. Taube

Auch sein Freund Osman kannte viele der Opfer aus der Schule. "Die schauen uns jetzt von oben zu, und ich finde es wichtig, herzukommen und denen zu zeigen, dass ich ein Freund bin", sagt er mit einem fast schon stolzen Lächeln.

Fast jeder in Moosach kennt eines der Opfer

Alle Opfer kamen aus München und Umgebung, bestätigte die Polizei am Samstagvormittag auf einer Pressekonferenz. Die meisten, das wird am OEZ klar, kamen direkt hier aus der Umgebung, aus dem Stadtteil Moosach. Ein Viertel abseits des Zentrums, viele Hochhäuser, eher ruhig gelegen im Norden der bayerischen Landeshauptstadt. Zwar will und kann so kurz nach der Tat noch nicht jeder der Trauernden der DW seine Eindrücke und Gefühle schildern - von denen, die es tun, kannte aber fast jeder eines oder mehrere der Opfer, oder zumindest eine betroffene Familie.

Nach Schießerei am Olympia Einkaufszentrum in München
Erinnerungen an die Freunde als BildercollageBild: DW/F. Taube

Mehrere großgewachsene, durchtrainierte Jungen betreten den Platz, steuern mit einem großen Bilderrahmen in der Hand zielgerichtet den kleinen Weg gegenüber dem Einkaufszentrum an, der von dem Schnellrestaurant zum Elektrogeschäft führt. Hier begann der Täter nach allem, was man weiß, zu schießen. Hier an dieser Stelle ist vor nicht einmal 24 Stunden ihr Freund gestorben. Am Morgen danach haben sie ihm zu Ehren eine Collage mit Fotos gestaltet, die sie hier ablegen: Sie zeigt die Jungs beim Feiern, im Urlaub, ein Klassenfoto ist auch dabei. "Memories" steht auf dem Bilderrahmen - alles nur noch Erinnerungen.

"Ich habe 100 Leute in den Keller gelotst"

Es ist schon später Nachmittag, und noch immer reißt der Strom der Trauernden nicht ab. Etwas abseits vom Olympia-Einkaufszentrum steht einer von denen, die man wohl als die "stillen Helden" von München bezeichnen kann. Und er ist bereits wieder auf der Arbeit. Mair Najjarzadeh arbeitet für eine Sicherheitsfirma, die das neben dem OEZ gelegene Einkaufszentrum MONA absichert - auch jetzt, da es geschlossen ist. "Alle sind hier rübergerannt und wollten ins MONA", berichtet er. "Ich habe dann auch die Schüsse gehört und schnell reagiert. Ich habe rund 100 Leute ins Untergeschoss gelotst." Als die Polizei kam, musste er sich zwar selbst auf den Boden legen und die Hände auf dem Rücken verschränken - konnte dann aber die Situation aufklären. "Ich bin noch deutlich länger geblieben als ich gemusst hätte", sagt er.

Die Frage nach dem "Warum?" kann hier niemand beantworten - die nach dem "Wie geht es weiter?" schon eher. Sabina Cekaj zum Beispiel. "Ich wollte selbst gestern gegen 18 Uhr noch ins OEZ", sagt sie. Dann schaut sie auf die anderen Trauernden, auf die vielen Schilder, auf denen die Namen der Opfer stehen. "Die ganzen kleinen Menschen hier", sagt sie, und die Stimme bleibt ihr fast weg, "die kannte ich alle." Jetzt will sie Trost spenden, wo sie kann. "Heute Abend werde ich einige der Opferfamilien besuchen." Was der Amoklauf mit ihr gemacht hat? Sie selbst war zwar zum Glück nicht betroffen, trotzdem wird er auch sie verändern, glaubt Sabina Cekaj. "Ich habe mich in München immer wohl und sicher gefühlt. Amokläufe waren doch immer in anderen Städten. Aber jetzt?" So viel ist klar: Ein Stück der Sicherheit und des Wohlfühlens ist am 22. Juli im OEZ urplötzlich für immer verschwunden.