"Jarmuk ist ein Höllenloch"
6. April 2015Jarmuk ist schon seit Beginn des Krieges ein umkämpfter Bezirk, weil er als Tor zur syrischen Hauptstadt Damaskus gilt. Seit dem 1. April hat auch der "Islamische Staat" Teile von Jarmuk unter seine Kontrolle gebracht. Die Terrororganisation kämpft - anders als im Rest des Landes - Seite an Seite mit der Al-Nusra-Front, einem Al-Kaida-Ableger. Gegner sind verschiedene Fraktionen in Jarmuk und das Regime von Baschar al-Assad.
Das, was in dem Damaszener Vorort passiert, steht für die Tragödie, die sich in ganz Syrien abspielt. Es herrscht Gewalt, mangelnde medizinische Versorgung und Unterernährung. Jarmuk ist größtenteils zerstört und fast von jeglicher Versorgung abgeschnitten. Seit Monaten kämpfen die letzten Verbliebenen um ihr Überleben. Ein Großteil von ihnen sind palästinensische Flüchtlinge. Deshalb wird Jarmuk auch häufig als Flüchtlingslager bezeichnet.
DW: Herr Gunness, die Terrororganisationen "Islamischer Staat" und Al-Nusra-Front haben große Teile von Jarmuk eingenommen. Die Armee von Präsident Baschar al-Assad fliegt Luftangriffe. Weitere Fraktionen innerhalb Jarmuks liefern sich schwere Gefechte mit dem IS und der Al-Nusra-Front. Wie würden Sie die Lage für die Menschen derzeit vor Ort beschreiben?
Christopher Gunness: Was ich ihnen aus der Sicht einer Hilfsorganisation sagen kann, ist, dass die Bevölkerung in diesem Konflikt zwischen den verschiedenen Parteien gefangen ist. Es leben noch 18.000 Menschen in Jarmuk, davon sind 3500 Kinder. Die Situation bezüglich der Machtverhältnisse ändert sich minütlich. Das Leben der Menschen dort ist bedroht. Sie sind eingesperrt in ihren umkämpften Häusern. Sie haben Angst nach draußen zu gehen. Daher fordern wir eine Waffenpause. Hilfsorganisationen brauchen Zugang zu Jarmuk. Die Kriegsparteien müssen die Menschen, die Jarmuk verlassen wollen, gehen lassen. Im Anschluss hoffen wir, dass ernsthafte Schritte unternommen werden, um die Belagerung und die Blockade aufzuheben.
Haben Sie den Eindruck, dass erst durch die Einnahme Jarmuks durch den IS und die Al-Nusra-Front, das Leid der Menschen dort weltweite Aufmerksamkeit erlangt hat?
Ich denke, die Situation der Bevölkerung in Jarmuk war der Welt schon bewusst. Aber die Frage ist doch: Kann diese Aufmerksamkeit auch politisches Handeln nach sich ziehen? Wir sagen schon lange, dass es nicht mehr nur um die Verbesserung der humanitären Lage geht. Die Weltmächte müssen den nötigen Druck auf die verschiedenen Parteien erhöhen. Erstens besagt das Völkerrecht, dass Zivilisten geschützt werden müssen. Und zweitens brauchen wir als Hilfsorganisation dringend Zugang. Seit einer Woche können wir aufgrund der schweren Kämpfe nicht mehr zu den Menschen und wir müssen Nahrung, Wasser und Medikamente zu ihnen bringen.
Seit Beginn des Krieges ist Jarmuk umkämpft. Es gilt als Tor zu Damaskus. Wie hat sich die Situation verändert?
Es ist in den vergangenen Tagen spürbar noch schlechter geworden. Seit Beginn des Krieges war Jarmuk schon ein Ort, an dem Frauen bei der Geburt ihrer Kinder ums Leben kamen, weil sie medizinisch unterversorgt waren. Kinder sind aufgrund von Unterernährung gestorben. Im September 2014 wurde die Hauptwasserleitung zerstört. Die Menschen sind sehr auf Hilfe angewiesen. Jarmuk war bereits ein Höllenloch, aber mit dem Ausbruch der Kämpfe vor einer Woche, ist die Lage der Menschen dort noch schlimmer geworden.
Was kann denn die internationale Staatengemeinschaft tun?
Wir hoffen, dass der UN-Sicherheitsrat zusammenkommt und Druck auf die verschiedenen Parteien ausübt - und damit meine ich Druck auf alle beteiligten Parteien. Wir hoffen, dass dies für eine Feuerpause sorgt, damit Zivilisten in Sicherheit gebracht und humanitäre Hilfe geleistet werden kann. Und dass anschließend entscheidende Schritte unternommen werden, um die Belagerung von Jarmuk zu beenden.
Christopher Gunness ist Sprecher von UNRWA. Das UN-Hilfswerk kümmert sich um die Grundbedürfnisse von fast fünf Millionen palästinensischen Flüchtlingen im Nahen Osten. Die UNRWA unterhält Einrichtungen in Jordanien, Libanon, dem Gazastreifen, dem Westjordanland und in Syrien.
Das Gespräch führte Diana Hodali.