Ungarns Votum für Finnland: Orban in der Sackgasse
28. März 2023Oft geht es blitzschnell im ungarischen Parlament. Wenn Ungarns Premier Viktor Orban es eilig hat, lässt er seine Parlamentarier schon mal in den späten Abendstunden Dutzende Gesetze, die erst kurz zuvor eingereicht wurden, im Fließbandverfahren verabschieden. Manchmal unterzeichnet dann das Staatsoberhaupt - derzeit ist Katalin Novak Präsidentin - sogar umgehend, damit der Text sofort im Amtsblatt veröffentlicht werden kann.
Anders im Fall des NATO-Beitritts von Finnland und Schweden. Um die Mitgliedschaft der beiden Länder zu ratifizieren, braucht das ungarische Parlament nicht Stunden, sondern inzwischen bereits viele Monate. Nachdem terminlich angesetzte Abstimmungen immer wieder verschoben worden waren, stimmten die Abgeordneten in Budapest nun am frühen Montagabend mit überwältigender Mehrheit für den Beitritt Finnlands. Nicht jedoch für den Schwedens. Wann und unter welchen Umständen dieses Votum stattfindet, ist unklar.
Seit rund zehn Monaten spielt Ungarn dieses Spiel. Es ist damit neben der Türkei das einzige NATO-Mitgliedsland, das um den geplanten Beitritt Finnlands und Schwedens derartige politische Manöver und Blockaden veranstaltet. Doch anders als im Falle der Türkei, die Finnland und Schweden zur Auslieferung von Regimegegnern und zu einem anderen Umgang mit der PKK zwingen möchte, hat die ungarische Regierung weit weniger greifbare Ziele.
Querschießen oder Gesicht wahren?
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat Viktor Orbans Strategie einer vor allem von Wirtschaftsinteressen geleiteten Außenpolitik, die in Ost und West gleichermaßen um Kooperation bemüht ist, über den Haufen geworfen. Ungarn hat sich einerseits in eine tiefe russische Abhängigkeit begeben und ist zugleich eines der EU-Länder mit dem engsten Verhältnis zu China. Andererseits steht es von Seiten der NATO und der EU immer mehr unter Druck, sich klar gegen Moskau zu positionieren. Zudem belastet der langjährige Streit mit Brüssel die Wirtschaft des Landes - wegen Korruptionsvorwürfen hält die EU Fördergelder in Milliardenhöhe zurück. In dieser Situation wirkt Orbans Haltung zur NATO-Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens, als wolle er unbedingt im Gespräch bleiben, den Preis hochtreiben, aber auch wie ein verzweifeltes Querschießen, weil er sein Land in eine immer tiefere außenpolitische Sackgasse geführt hat.
Allerdings könnte das Votum für Finnland nun ein genauso verzweifelter Versuch Orbans sein, eine Wende anzudeuten und sein Gesicht zu wahren. Denn noch vor kurzem hieß es aus Ungarn, man könne die NATO-Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens nicht ratifizieren, solange Politiker beider Länder sich wahrheitswidrig und in respektloser Weise über den Zustand der ungarischen Demokratie äußerten. Im Fall Finnlands fielen diese Bedenken plötzlich - ohne dass irgendein finnischer Politiker öffentlich irgendeine Entschuldigung gegenüber Ungarn ausgesprochen hätte. Zu Schweden heißt es aus Kreisen der ungarischen Regierung weiterhin, dass dortige Politiker "die ungarischen Wähler und Ungarn beleidigen" würden und die NATO-Mitgliedschaft des Landes deshalb nicht so einfach ratifiziert werden könne.
NATO-Ukraine-Rat gegen Ungarns Willen
Was ist nun im Detail der Kontext dieser Politik? In der NATO gilt Ungarn wegen seiner Russland-Nähe und seiner antiukrainischen Haltung seit langem als eines der umstrittensten Mitglieder. Seit seinem Amtsantritt 2010 pflegt Orban ein sehr enges Verhältnis zum russischen Präsidenten Wladimir Putin. Ungarns Regierungschef ist in seiner Verurteilung der russischen Aggression gegen die Ukraine bis heute höchst vorsichtig. Ungarn ist zudem das einzige NATO-Land an der Grenze zur Ukraine, dass über sein Territorium keine Waffenlieferungen in das angegriffene Nachbarland erlaubt und das auch selbst keine Waffen an die Ukraine liefert. Insbesondere das Verhältnis Ungarns zu den USA hat unter dieser Politik stark gelitten - es ist so schlecht wie nie zuvor seit dem Ende der realsozialistischen Diktatur 1989.
Schon seit Jahren blockiert Ungarn auch Treffen des NATO-Ukraine-Rates. Der vorgebliche Grund: Die Orban-Regierung wirft der Ukraine vor, die ungarische Minderheit in Transkarpatien zu unterdrücken und deren Rechte zu beschneiden. Doch die Blockade ist wohl auch eine Geste in Richtung Moskau, von dessen Energielieferungen Ungarn stark abhängt. Allerdings hat der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg Ungarns Blockade nun mit einem Machtwort beendet: Er kündigte an, den NATO-Ukraine-Rat gegen Budapests Willen einzuberufen - was sein Recht als Vorsitzender des Militärbündnisses ist.
Ungarn und die "globale Mehrheit"
Auch in der Europäischen Union hat sich Ungarn ins Abseits manövriert. Nicht nur lehnt es als einziges EU-Land Waffenlieferungen an die Ukraine ab. Es plädiert auch als einziges Mitglied für eine Aufhebung der antirussischen Sanktionen, obwohl Orban bisher widerwillig überwiegend für die Sanktionspakete gestimmt hat - Ausnahmen waren beispielsweise die geplanten Sanktionen gegen den russischen Patriarchen Kyrill im vergangenen Jahr. Auch bei anderen Gelegenheiten sendet Orban immer wieder Treuegrüße nach Moskau: So etwa kündigte seine Regierung an, sie werde den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Wladimir Putin auf ungarischem Territorium nicht vollstrecken; eine gemeinsame Erklärung der EU zum Haftbefehl blockierte Ungarn.
Auch im Kreise der sogenannten Visegrad-Staaten steht Ungarn inzwischen einsam da. Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn bildeten einst eine gewichtige östliche Stimme in der EU. Ungarns Haltung zum Krieg gegen die Ukraine hat auch den letzten Rest des Zusammenhaltes zwischen den Visegrad-Staaten kaputt gemacht und sogar zu einer tiefen Entfremdung zwischen Warschau und Budapest geführt, die lange Zeit mit gemeinsamer Stimme gegen Kritik aus Brüssel sprachen.
Ob Viktor Orban angesichts dieser Gemengelage eine Kehrtwende in seiner Außenpolitik vollzieht, ist unklar. Prinzipiell stünde Ungarn natürlich hinter einer schwedischen NATO-Mitgliedschaft, lässt er immer wieder verlauten. Eine mögliche Abkehr von Russland hat er in jüngsten Reden sehr vage angedeutet - und offen gelassen. Über einen Besuch Orbans in Kiew gibt es seit längerem Spekulationen. Um jedoch nicht den Eindruck zu erwecken, dass es einsam um ihn werde, hat Ungarns Premier einen neuen Begriff geprägt: den der "globalen Mehrheit". Wann immer Orban eine Position vertritt, die von anderen NATO- und EU-Ländern nicht geteilt wird, spricht er davon, dass Ungarn mit seiner Haltung auf der Seite dieser "globalen Mehrheit" stehe.