Ungarns Politneuling Magyar: Chance auf Zukunft ohne Orban?
30. Juni 2024Ein rot-weiß-grün besprühter Pritschenwagen rollt auf den Hauptplatz von Szombathely, im Nordwesten Ungarns. Auf seiner Ladefläche steht ein Mann Anfang vierzig. Er trägt Hemd, Jeans und Sonnenbrille. Aus den Lautsprechern dröhnt das Lied: "Sag mir, wen du wählen würdest". Der Mann mit der stylischen Frisur auf dem Laster ist der neue Politstar des Landes: Peter Magyar. Er hält eine Kampagnenrede vor einigen hundert Menschen. Darin geht es vor allem um eines: Er verspricht den Ungarn, Viktor Orban und seine Ordnung zu stürzen.
"Womit hat Peter Magyar Sie überzeugt?", fragt der Reporter eines unabhängigen ungarischen Nachrichtenportals eine anwesende Rentnerin. "Er brauchte mich nicht zu überzeugen. Von Orban habe ich schon lange die Nase voll!", erwidert die Renterin. "Magyar hat mich davon überzeugt, dass es endlich jemanden gibt, der hier etwas bewegen kann."
So wie die Rentnerin sehen es in diesen Tagen viele Ungarinnen und Ungarn. Seit Peter Magyar im Februar die politische Bühne betrat, herrscht Umbruchstimmung im Land. Zwar wurde die rechtsnationalistische Regierungspartei Fidesz (Bund Junger Demokraten) des Premiers Orban bei der Wahl zum Europäischen Parlament am 9. Juni mit rund 44 Prozent wieder stärkste Kraft. Doch es ist für Fidesz das schlechteste Wahlergebnis seit langem. Hingegen kam Peter Magyars Partei Tisza (Respekt und Freiheit) aus dem Stand auf 33 Prozent.
Saubere konservative Alternative
Seitdem Orban 2010 die Macht in Ungarn übernahm, ist jeder Versuch, ihn abzuwählen, kläglich gescheitert. Auch gemeinsam kamen die Oppositionsparteien nicht annährend auf eine Mehrheit gegen Fidesz. Was hat nun Peter Magyar, ein Turnschuhe tragender Mann mit einer rauen Stimme und einem überdurchschnittlichen Selbstbewusstsein, was andere nicht haben?
Seit Jahren wird in Ungarn darüber gemunkelt, dass Orban eines Tages von seinen eigenen Leuten besiegt werden könnte. Und Magyar ist genau das - er kommt aus Orbans engerem Umfeld. Der 43 Jahre alte Jurist und Geschäftsmann war mit der ehemaligen Justizministerin Judit Varga verheiratet, hatte verschiedene gut dotierte Posten im Orban-System bekleidet und war mit einigen der höchsten Fidesz-Funktionäre gut bekannt oder befreundet. Er hat sich seit seinen ersten öffentlichen Auftritten im Februar 2024 als eine Art saubere konservative Alternative zu Orban präsentiert - als Mann, der die Fidesz-Werte teilt, aber nicht korrupt ist.
Der Budapester Soziologe und Mitbegründer des unabhängigen Think Tanks Political Capital, Zoltan Somogyi, erklärt Ungarns neues Politphänomen so: "Magyar sagt: 'Ich bin eigentlich der wahre Fidesz. Es gibt zwei Unterschiede zwischen dem heutigen Fidesz und mir. Ich stehle nicht und befürworte nachdrücklich die Europäische Union.'"
Missbrauchsaffäre als Auslöser
Magyar, dessen Familienname ausgerechnet "Ungar" bedeutet, tauchte im Februar 2024 praktisch aus dem Nichts auf. Er ging an die Öffentlichkeit, nachdem die Staatspräsidentin Katalin Novak im Zuge der so genannten Missbrauchsaffäre zurückgetreten war. Sie hatte einen wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch verurteilten Straftäter begnadigt. Im Zuge der Affäre hatte sich auch Magyars Ex-Frau, bis dahin Fidesz-Listenführerin für die Europawahl, aus der Politik zurückgezogen. Die Affäre hatte für große Empörung in der Öffentlichkeit gesorgt, da Orbans Regierung Kinderschutz mit viel propagandistischem Aufwand zu einem Eckpunkt ihrer Politik gemacht hat.
Peter Magyar hatte anfangs nur seine Wut darüber ausgedrückt, dass die Staatspräsidentin und seine Ex-Frau Bauernopfer des Orban-Systems seien, dann aber seinen Einstieg in die Politik angekündigt. Innerhalb von vier Monaten schaffte er es, mit seiner Tisza-Partei ein hohes zweistelliges Wahlergebnis zu erzielen und den Beitritt zur Europäischen Volkspartei (EVP) in die Wege zu leiten, aus der Orbans Fidesz 2021 ausgetreten war, um einem Ausschluss zuvorzukommen.
"Dass so etwas jemals passiert, hätte Orban sich nie träumen lassen", sagt der Soziologe Zoltan Somogyi. "Außerdem hat Magyar das alles ohne ein ernsthaftes Wahlkampfbudget erreicht - im Gegensatz zu Fidesz, der Milliarden für Propaganda einsetzt." Und, so fügt Somogyi hinzu, Magyars Tisza sei die erste oppositionelle politische Kraft seit 2010, die keine staatliche Parteienfinanzierung akzeptiert.
Vertrauen in Fidesz erschüttert
Die Ungarin Eszter M. war bisher eine unerschütterliche Fidesz-Anhängerin. Nun fühlt sie sich von Magyar angesprochen. "Für einen Menschen mit christlich-konservativer Weltanschauung wie mich stellte Fidesz lange Zeit die einzig mögliche politische Präferenz in Ungarn dar. Selbst bei der Wahl im Frühjahr 2022 habe ich für Orban gestimmt, weil ich ihm glaubte, dass uns kein anderer außer ihm schützen kann, falls sich der Krieg in der Ukraine ausbreiten würde", erinnert sich die 45-jährige Ökonomin, die in einem Ort bei Budapest lebt.
"Mein Vertrauen in Fidesz wurde von Grund auf erschüttert, als sie in meinem Heimatdorf eine ausländische Batteriefabrik errichten wollten. Dabei haben sie nicht die geringste Rücksicht auf die Sorgen der Dorfbevölkerung genommen", berichtet Eszter M. "Mir wurde plötzlich klar, dass es in den ländlichen Regionen Ungarns nur einen einzigen Weg zum Überleben gibt - nämlich, in die Fidesz-Strukturen eingebettet zu sein."
Erfolg muss sich erst noch zeigen
Der Budapester Buchautor und Psychiater György Banki zählt seit einigen Jahren zu den wichtigen Akteuren des öffentlichen Diskurses in Ungarn. Er glaubt, dass es in Ungarn zur Zeit sehr viele Menschen wie Eszter M. gibt. Er sieht darin eine Folge der tiefen gesellschaftlichen Spaltung, in die Orban das Land getrieben habe. "Diese Spaltung hat alles stark beeinträchtigt, vom Miteinander in den Familien bis hin zur allgemeinen Leistungsfähigkeit des Landes. Es fehlt an jeglicher Dialogfähigkeit, an minimaler Kritiktoleranz, an Möglichkeiten, über essentielle gesellschaftliche Fragen zu diskutieren."
Magyars Erfolg beruhe zum großen Teil darauf, so Banki, dass er die nationale Symbolik des Fidesz gewissermaßen in umgekehrter Richtung nutze. Er betone Werte wie Heimat, Glaube, Tradition, Familie und Gemeinschaft, um die Gesellschaft zu vereinen und nicht, um sie so tief wie möglich zu spalten. Zugleich betone er Anstand, Ehrlichkeit und Respekt für Andersdenkende. "Damit kann er Menschen unterschiedlicher politischer Einstellungen gleichzeitig ansprechen: von den linken Intellektuellen, die bereit sind, für den Wandel ernsthafte Kompromisse einzugehen, bis hin zu den wankelmütigen Fidesz-Wählerinnen und -Wählern", erklärt Banki.
Ob Peter Magyar sich über seinen momentanen Erfolg bei der Europa-Wahl hinaus in der ungarischen Politik etablieren kann, muss sich erst zeigen. Nicht wenige Beobachter in Ungarn sind skeptisch. Magyar selbst hat keinerlei Zweifel. Sein Motto lautet: "Die Zeit der One-Man-Show ist vorbei! Jetzt beginnt die Zeit des Aufbaus."
Die Ungarin Eszter M. seufzt. Sie ist nicht unbedingt eine Magyar-Enthusiastin, aber wie viele andere Ungarn sehnt sie nun vor allem einen Wandel herbei. Sie sagt: "Ich habe einfach keine andere Wahl, als Peter Magyar zu vertrauen."