Verfassungsreform in Ungarn
12. März 2013Demonstrationen und Proteste der demokratischen Opposition in Ungarn, Kritik aus dem Ausland, am Ende sogar ein persönlicher Anruf des EU-Kommissionspräsidenten Jose Manuel Barroso bei Regierungschef Viktor Orbán selbst: Der Druck auf die ungarischen Machthaber war groß - und half am Ende doch nicht. Mit Zwei-Drittel-Mehrheit hat das ungarische Parlament die Verfassungsänderung verabschiedet. Zuvor hatten führende Politiker der Regierungspartei Fidesz verkündet, man lasse sich vom Ausland keine Abstimmungstermine vorschreiben.
Es war schon die vierte und zugleich größte Verfassungsänderung binnen Jahresfrist, die das Parlament abwinkte - dabei trat Ungarns neue, auch bereits umstrittene Verfassung erst im Januar 2012 in Kraft. Die Novelle bewerten sowohl die demokratische Opposition in Ungarn als auch Rechtsexperten als Frontalangriff auf rechtsstaatliche Prinzipen und Bürgerrechte. Kein Geringerer als Ungarns ehemaliger Staatspräsident László Sólyom, ein liberal-konservativer Jurist, der selber Vorsitzender des Verfassungsgerichtes war, spricht vom "Ende der Gewaltenteilung" in Ungarn.
Orbán baut seinen Einfluss aus
Mit der neuen Verfassungsnovelle verliert das Verfassungsgericht weitere Kompetenzen: Änderungen des Grundgesetzes darf das Gremium künftig nicht mehr auf inhaltliche, sondern nur noch auf formale Rechtmäßigkeit überprüfen, also etwa daraufhin, ob sich aus einer bestimmten Neuregelung rechtliche Widersprüche zu bestehenden Bestimmungen ergeben. Eine direkte Prüfung - beispielsweise, ob ein Verfassungsartikel gegen in der Verfassung verankerte Bürgerrechte verstößt - ist so nicht mehr möglich. Die Richter können künftig bestenfalls urteilen, dass durch einen Verstoß gegen ein garantiertes Bürgerrecht die Verfassung rechtlich nicht mehr in sich stimmig ist. In jedem Fall wird es für das Verfassungsgericht wesentlich schwieriger, die politischen Machthaber ihres Landes zu kontrollieren.
Zudem ist den Verfassungsrichtern nun auch das Recht genommen, sich in ihren Urteilen auf Entscheidungen berufen zu können, die sie vor Inkrafttreten der neuen Verfassung im Januar 2012 getroffen haben. Wie eine Demütigung wirkt auch, dass viele der zuvor für verfassungswidrig erklärten Regelungen nun nachträglich in der Verfassung verankert werden, etwa das Aufenthaltsverbot für Obdachlose auf öffentlichen Flächen, das Verbot von Wahlkampf-Reklame in privaten Medien, das Recht des Leiters der Landesjustizbehörde OBH, Prozesse bestimmten Gerichten zuzuweisen, die Definition des Familienbegriffs als Ehe und Beziehung zwischen Kindern und Eltern oder das Recht des Parlamentes festzulegen, wer als Religionsgemeinschaft gilt und damit staatlich gefördert wird.
Eingeschränkt werden könnte in Ungarn künftig auch die Meinungsfreiheit, und zwar, wenn die nicht näher definierte "Würde der ungarischen Nation verletzt" wird. Studenten sollen verpflichtet werden, nach ihrem Hochschulabschluss für eine bestimmte Zeit in Ungarn zu bleiben und zu arbeiten. Andernfalls müssten sie Studiengebühren zahlen.
Ein juristischer Rachefeldzug
Der Budapester Verfassungsrechtler György Kolláth nennt die Verfassungsänderung einen "juristischen Rachefeldzug" und sagt, die Verfassungsänderung sei den "bolschewistischen Reflexen" von Orbán und seiner Partei "Bund Junger Demokraten" (Fidesz) entsprungen. Tatsächlich war das ungarische Verfassungsgericht die letzte starke staatliche Institution, die sich dem Willen Orbáns von Zeit zu Zeit entgegenstellte - immer dort, wo es die Rechtsstaatlichkeit verletzt sah. Sehr zum Ärger von Orbán verwarf das Gericht zahlreiche Gesetze, die seine Regierungsmehrheit verabschiedet hatte, darunter zuletzt Anfang Januar die umstrittene Wählerregistrierung.
Die Disziplinierung und Entmachtung des Verfassungsgerichtes begann praktisch schon mit Orbáns Wahlsieg im Frühjahr 2010. Die Regeln für die Wahl und die Zusammensetzung des Gerichts wurden schnell geändert, schon im Herbst 2010 entzog die Orbán-Regierung dem Gremium die Befugnis, Urteile in staatlichen Finanzangelegenheiten zu fällen. Außerdem ersetzte Orbán ausscheidende Richter mit ihm genehmen Kandidaten.
Der Beginn eines autoritären Systems?
Die Kritik der demokratischen Opposition in Ungarn erreicht einen neuen Höhepunkt: Das außerparlamentarische Oppositionsbündnis "Zusammen 2014" spricht in von einem "Amoklauf gegen die Verfassungsordnung". Andras Schiffer, Chef der grün-alternativen Partei "Politik kann anders sein" (LMP), sieht die Verfassungsänderung als Beginn eines "autoritären Systems".
Auch der Budapester Verfassungsrechtler Gabor Halmai erhebt schwere Vorwürfe. "Das Imperium schlägt zurück", sagt Halmai. "Bei dieser Verfassungsänderung ging es wirklich darum, die ernsthafteste Hürde für die Machtausübung der Regierung auszuschalten und die Unterordnung der alltäglichen Politik unter die Verfassungsrechtspolitik zu beenden. Mit der jetzigen Verfassungsänderung wurde dieser Prozess abgesichert: Das Verfassungsgericht hat keine Kompetenzen mehr, die Zerschlagung der Verfassungsmäßigkeit in Ungarn mit verfassungswidrigen Regelungen zu verhindern."