Ungarn: Orban eröffnet neues Störfeuer gegen EU
24. November 2023Außerhalb Ungarns ist es in letzter Zeit stiller geworden um Viktor Orban. Der Krieg im Nahen Osten und Russlands Krieg gegen die Ukraine beanspruchen die öffentliche Aufmerksamkeit in Europa.
Zudem hat Ungarns Premier in den vergangenen Jahren an politischem Gewicht in Europa verloren. Verbündete in Mittel- und Südosteuropa kamen ihm abhanden. So verlor er durch die Abwahl der polnischen Regierungspartei PiS seinen wichtigster Partner in der Region, Polen.
Dennoch macht der ungarische Premier seinem Ruf als "Querulant der Europäischen Union" und als Schöpfer eines "illiberalen Staates" derzeit wieder alle Ehre.
In dieser Woche (21.11.2023) kündigte Orban in einem Brief an den EU-Ratspräsidenten Charles Michel indirekt an, sein Veto gegen den Beginn von EU-Beitrittsgesprächen mit der Ukraine einlegen zu wollen.
Flankierend dazu startete die ungarische Regierung vor wenigen Tagen erneut eine ihrer so genannten "Nationalen Konsultationen", zusammen mit einer großangelegten landesweiten Plakatkampagne.
Diesmal richtet sich die Aktion hauptsächlich gegen die Ukraine, aber auch gegen die EU-Migrationspolitik. Und: Innenpolitisch dreht Orban mit einem so genannten "Souveränitätsgesetz" weiter an der Repressionsschraube gegen die politische Opposition.
Konsultation mit Suggestivfragen
Nach vielen Jahren der Auseinandersetzung scheint man in der EU inzwischen Orbans überdrüssig zu sein. Und das, obwohl sich der ungarische Premier in der letzten Zeit rhetorisch immer mehr radikalisiert.
So setzt er Rechtsstaatsverfahren der EU gegen Ungarn wegen Korruption verbal mit dem Einmarsch der sowjetischen Armee in Ungarn gleich, deren Panzer 1956 die ungarische Revolution blutig niederwalzten.
Und er bezichtigt die "Brüsseler Bürokraten", sie wollten Ungarn einen "Bevölkerungsaustausch" mit islamischen Migranten sowie eine "LGBTQ-Lebensweise" aufzwingen.
Auch die neue "Nationale Konsultation" enthält entsprechende Passagen. Bei solchen Kampagnen verschickt die Regierung Fragebögen an alle ungarischen Haushalte, in denen man Antworten auf Suggestivfragen ankreuzen kann.
In der jetzigen Konsultation heißt es beispielsweise: "Nachrichten über aggressive LGBTQ-Propaganda, die auf Kinder abzielt, nehmen zu."
Die EU schlage vor, den Kinderschutz zu lockern. Bürgerinnen und Bürger können sich dann entscheiden, ob sie das wollen oder nicht. Doch einen solchen Brüsseler Vorschlag gibt es gar nicht.
Worum es tatsächlich geht: Die EU-Kommission hat Ungarn 2022 vor dem Europäischen Gerichtshof wegen eines Gesetzes verklagt, das so genannte "LGBTQ-Propaganda" praktisch mit Pädophilie gleichsetzt und es verbietet, Minderjährigen jegliche Inhalte über Homo- und Transsexualität zugänglich zu machen.
Aufgrund dieses Gesetzes war eine Budapester Buchhandlung im Juli 2023 zu umgerechnet rund 32.000 Euro Geldstrafe verurteilt worden - und zwar, weil ein harmloses Comic-Jugendbuch über die Liebesgeschichte zweier Jungs dort offen auslag.
"Befürworten Sie Migranten-Ghettos?"
Ähnlich verzerrend und suggestiv wird zu anderen Themen gefragt. Beispielsweise: Ob die Ungarn "Migranten-Ghettos" wollten, wie Brüssel sie plane, oder ob sie die finanzielle Unterstützung der EU für palästinensische Terroristen befürworteten?
Demagogisch ist auch der Ukraine-Teil der Konsultation gehalten. Ob die Ungarn für eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine seien, da das Land doch dann einen großen Teil der EU-Fördergelder bekäme, lautet eine Frage.
Die Bürger können ankreuzen, für Frieden oder für "mehr EU-Gelder auf dem Schlachtfeld" zu sein. Sie können sich für den Schutz ungarischer Bauern und gegen den Import genmodifizierten ukrainischen Getreides aussprechen. Und dafür, dass zuerst Ungarn EU-Fördergelder bekommt, bevor die Ukraine weiter unterstützt wird.
Gute Geschäfte mit Russland
Viktor Orban wirft dem Westen fast in jeder seiner wöchentlichen Ansprachen im ungarischen Staatsradio vor, schuld am Krieg Russlands gegen die Ukraine zu sein und das Blutvergießen nicht beenden zu wollen. Er plädiert für eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland und eine Aufhebung der antirussischen EU-Sanktionen.
Ungarn macht derzeit als einziges EU-Land vor, wie Großprojekte mit Russland auch in Kriegszeiten gehen: In der vergangenen Woche (14.11.2023) unterschrieben Ungarns Außenminister Peter Szijjarto und der Chef der russischen Atomenergie-Behörde Rosatom, Alexej Lichatschow, einen konkreten Fahrplan über die seit langem geplante Erweiterung des ungarischen Atomkraftwerks Paks.
An ein russisches Vorbild erinnert auch ein neues Gesetzesvorhaben, das Orbans System weitere Möglichkeiten bietet, gegen Kritiker vorzugehen: das so genannte Souveränitätsgesetz. Es soll in der kommenden Woche im Parlament debattiert und möglicherweise auch verabschiedet werden.
Das Gesetz stellt zum einen jegliche Art der Parteien- und Wahlkampffinanzierung aus dem Ausland unter Strafe. Zum anderen sieht es die Schaffung eines "Amtes für den Schutz der Souveränität" vor. Die Behörde soll kontrollieren, ob Parteien, zivile Organisationen und Einzelpersonen Ungarns nationale Souveränität verletzen.
Handhabe für Schikanen gegen Kritiker
Sie erhält dafür nahezu uneingeschränkte Zugriffsrechte auf alle Arten von Daten untersuchter Organisationen und Personen. Auf Grundlage der "Souveränitätsberichte" der Behörde können Ermittlungs- und Strafverfahren gegen Organisationen und Personen eröffnet werden - eine weitreichende Handhabe, Kritiker des Systems Orban zu schikanieren und zu zermürben.
Bemerkenswert: Weder das Gesetz noch der Begründungstext definiert den Begriff der "nationalen Souveränität" oder was als Verletzung derselben gelten könnte. Der Text des Entwurfs ist dermaßen vage gehalten, dass beispielsweise selbst Medien, die Spenden aus dem Ausland erhalten, kriminalisiert werden könnten.
In ähnlicher Weise werden in Russland mit dem "Ausländische-Agenten-Gesetz" von 2012 Zivilorganisationen verboten und Privatpersonen kriminalisiert. Auch in Ungarn gab es bereits ein ähnliches Gesetz, mit dem private Organisationen verpflichtet werden sollten, sich ab einer bestimmten Summe ausländischer Zuwendungen als "ausländisch finanziert" zu bezeichnen.
Das Gesetz wurde im Juni 2020 vom Europäischen Gerichtshof für rechtswidrig erklärt. Das jetzige Souveränitätsgesetz ist eine Art erweiterte und verschärfte Neuauflage.
In Ungarn gibt es bereits scharfen Protest gegen das Gesetz. Zahlreiche wichtige Nicht-Regierungsorganisationen sprechen in einer gemeinsamen Erklärung von einem "Gesetz zum Schutz der Willkür" statt der Souveränität.
Promiente ungarische Juristen halten den Entwurf für verfassungswidrig und nicht vereinbar mit EU-Recht. Ungarns Premier ficht das nicht an.
Seine Strategie verkündete er jüngst auf einer Konferenz in der Schweiz: "Ungarn ist nicht das schwarze Schaf in Europa, sondern die erste Schwalbe."