Ungarn: Ein Anti-Politiker fordert Orban heraus
18. Oktober 2021Ungarns Premier Viktor Orban regiert im zwölften Jahr. Dreimal gewann er in dieser Zeit Parlamentswahlen mit Zwei-Drittel-Mehrheiten. Die nutzte er zu einer radikalen politischen Umgestaltung seines Landes - von der Gleichschaltung der meisten Medien bis hin zur Kontrolle des größten Teils der Justiz. Ernsthafte innenpolitische Konkurrenz und eine Gefahr für seine Ordnung musste Orban seit seinem Machtantritt 2010 kaum fürchten.
Das ändert sich nun. Ungarns sechs wichtigste Oppositionsparteien, die zur Parlamentswahl im Frühjahr 2022 in einem Bündnis antreten, haben nach einer mehrwöchigen landesweiten Vorwahl am vergangenen Sonntagabend (17.10.2021) einen gemeinsamen Spitzenkandidaten gekürt. Das Ergebnis war eine große Überraschung: Anders als erwartet, gewann die Vorwahl ausgerechnet jener Kandidat, dem lange Zeit die wenigsten Chancen eingeräumt worden waren und der als einziger keine eigene Partei hinter sich hat: Peter Marki-Zay, 49 Jahre alt, Bürgermeister einer südungarischen Kleinstadt, Katholik, Vater von sieben Kindern und Gründer der Aktivistenbewegung "Ein Ungarn für alle" (MMM).
Marki-Zay erhielt in der zweiten Runde der Vorwahl 57 Prozent der Stimmen - bei einer Rekordbeteiligung von 662.000 Wählerinnen und Wählern. Seine Gegenkandidatin, Klara Dobrev von der sozialliberalen Partei Demokratische Koalition (DK), hatte ursprünglich als Favoritin gegolten, kam aber letztlich nur auf 43 Prozent.
Anti-Establishment-Kandidat
Marki-Zay ist politisch wenig erfahren - aber ein äußerst talentierter Redner und erfolgreicher Agitator. Er gibt sich als Anti-Establishment-Kandidat und fällt häufig mit provokativen Äußerungen und radikaler Rethorik auf. Paradoxerweise ist es vor allem diese Rolle des Außenseiters, die ihn zu einem aussichtsreichen Herausforderer Orbans macht.
Wie gefährlich Marki-Zay dem ungarischen Premier werden kann, zeigte er am Sonntagabend, noch bevor das Ergebnis der Vorwahl endgültig feststand. Im Zentrum von Budapest hielt er vor Anhängern eine flammende Rede, die zwar inhaltlich wenig aussagekräftig war - aber dennoch viele Versammelte zu Ovationen und Jubelrufen hinriss. Marki-Zay verkündete eine "Revolution der kleinen Leute" und ein "neues, anständiges Ungarn". Er versprach eine Rückkehr Ungarns nach Europa und zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Eine "Koalition der Sauberen" werde Orban und seine Partei Fidesz mit Zwei-Drittel-Mehrheit besiegen und die gesellschaftliche Spaltung der vergangenen Jahrzehnte durch "Liebe" beenden. Mehrfach wiederholte er sein Motto: "Nicht links, nicht rechts, sondern aufwärts!" Später sprach Marki-Zay auf einer Pressekonferenz mit Blick auf seine Außenseiterrolle davon, dass die Wähler und Wählerinnen in der Vorwahl nicht nur für eine Ablösung Orbans gestimmt, sondern auch die "Opposition ausgewechselt" hätten.
Mit einem Paukenschlag in die große Politik
Der Mann, der Orban besiegen will, hat eine nicht ganz gewöhnliche Biographie. Er studierte Marketing, Elektrotechnik, Volkswirtschaft und Geschichte. Zwischen 2004 und 2009 lebte er mit seiner Familie in Kanada und den USA und arbeitete dort als Telefonverkäufer und im Auto-Ersatzteilhandel. Nach der Rückkehr nach Ungarn war Marki-Zay bei verschiedenen Elektrotechnik-Unternehmen tätig und lehrte nebenbei Marketing an der Universität im südungarischen Szeged.
Sein Eintritt in die Politik war ein Paukenschlag: Anfang 2018 trat er als parteiunabhängiger und gemeinsamer Bürgermeisterkandidat der Opposition in seiner südungarischen Heimatstadt Hodmezövasarhely an - und gewann mit klarer Mehrheit gegen den Fidesz-Kandidaten. Die Wahl in der Kleinstadt war landesweit von hohem Symbolwert: Zum einen galt Hodmezövasarhely als uneinnehmbare Orban-Bastion, zum anderen erprobte die Opposition hier erstmals das Modell eines gemeinsamen Antretens gegen den Langzeit-Premier und seine Partei. Dass Marki-Zay dabei erfolgreich war, katapultierte ihn auf einen Schlag in die große Politik Ungarns.
"Die halbe ungarische Regierung ist schwul"
Er fiel von Anfang an mit einem eigenwilligen Stil und umstrittenen Positionen auf. Seine Anti-Orban- und Anti-Korruptionsrethorik trägt religiöse Züge, was seinem strengen Katholizismus wie auch dem Umstand geschuldet sein dürfte, dass er einst selbst Fidesz-Anhänger war, sich dann aber enttäuscht von der Partei abwandte. Er positioniert sich gern gegen vermeintlich schädliche politische Korrektheit - er betont beispielsweise trotzig, dass er explizit 'Zigeuner' statt 'Roma' sage oder dass es nicht gleich Kindesmisshandlung sei, sein Kind auch mal zu ohrfeigen.
Im Bürgermeisteramt seiner Stadt stellte er zeitweise einen elektronischen "Migrantenzähler" auf, der beweisen sollte, dass Orban trotz seiner Anti-Migrationsrethorik tausende Flüchtlinge im Land ansiedele. Jüngst behauptete er ohne Belege, Orbans großes Drama bestehe darin, dass sein einziger Sohn Gaspar schwul sei; überhaupt sei "die halbe ungarische Regierung schwul", weshalb ihre Anti-LGBTQ-Politik besonders verlogen sei. Für große Aufregung sorgte in den vergangenen Wochen, dass Marki-Zay dafür plädierte, im Falle eines Wahlsieges die geltende ungarische Verfassung mit einfacher Parlamentsmehrheit außer Kraft zu setzen und so Orbans Ordnung handstreichartig zu stürzen. Selbst Orban-kritische Verfassungsrechtler waren entsetzt.
Charismatischer Führer versus korrupte Partitokratie
Ungarische Kommentatoren rückten Marki-Zay immer wieder in die Nähe von Anti-Establishment-Politikern wie Ex-US-Präsident Donald Trump und werfen ihm Unberechenbarkeit in seinen Äußerungen vor. "Paranoide Anklagen und Hetze sind der Stil der extremen Rechten und nicht würdig eines Politikers, der Fackelträger einer neuen ungarischen Demokratie sein möchte", schreibt etwa der linke Philosoph Gaspar Miklos Tamas.
Bei vielen Wählern und Wählerinnen kommt Marki-Zay jedoch gut an. Er ist ausgesprochen aktiv in sozialen Medien, und dort finden sich unter seinen Posts und Video-Interviews ungezählte positive und begeisterte Kommentare. "Für hunderttausende Wähler vertritt er glaubwürdig, dass er über den Parteien steht", schreibt das unabhängige Portal Telex. "Er verkörpert die archaische und zugleich postmoderne Erwartung, dass ein entschlossener, charismatischer Führer die korrupte Partitokratie endlich ablösen möge."
Orbans Alptraumkandidat
In den vergangenen Wochen ging es in der Vorwahl-Kampagne der Opposition teilweise hoch her. Die Kandidaten der vereinten Opposition überschütteten sich gegenseitig mit Vorwürfen, und mitunter schien nicht mehr sicher, ob ein gemeinsames Antreten gegen Orban noch möglich sei. Doch nach der Bekanntgabe des Vorwahlergebnisses stellten sich alle Parteien und alle anderen Kandidaten nahezu umgehend hinter Marki-Zay - wohlwissend, dass es keinen anderen politischen Weg gibt. Dennoch dürfte es in den kommenden Monaten schwierig werden für die sechs Oppositionsparteien, sich mit dem eigenwilligen Marki-Zay auf eine gemeinsame Wahlkampfstrategie und auf ein Vorgehen nach einem möglichen Wahlsieg zu einigen.
Orban und seine Partei Fidesz hingegen müssen sich nun eine neue Strategie ausdenken: Mit Marki-Zay als Spitzenkandidat der Opposition hatten sie nicht gerechnet. Bisher baute das Regierungslager auf die Strategie, das Gespenst einer Rückkehr zur verhassten sozialliberalen Regierungszeit von 2002 bis 2010 an die Wand zu malen. Klara Dobrev wäre dafür die Idealkandidatin gewesen, denn sie ist die Ehefrau des umstrittenen sozialistischen Ex-Premiers Ferenc Gyurcsany. Marki-Zay hingegen ähnelt Orban in vielem - mit dem Unterschied, dass er als unbestechlich gilt. Der Wahlforscher Robert Laszlo formulierte es so: Marki-Zay sei für Fidesz der "Alptraumkandidat".