UN: Zivilisten im Gazastreifen müssen versorgt werden
Veröffentlicht 10. Oktober 2023Zuletzt aktualisiert 10. Oktober 2023
Angesichts des Angriffs von Hamas-Terroristen auf Israel und israelischer Gegenschläge im Gazastreifen haben die Vereinten Nationen die Einhaltung des humanitären Völkerrechts gefordert. Es gebe klare Anzeichen für Kriegsverbrechen, betonte eine Kommission des UN-Menschenrechtsrates in Genf. "Zivilisten als Geiseln zu nehmen und als menschliche Schilde zu benutzen sind Kriegsverbrechen", hieß es in Richtung Hamas. Diese wird von den USA und der EU als Terrororganisation eingestuft.
Die Vereinten Nationen kritisierten zudem Israels Beschluss, alle Lieferungen von Nahrungsmitteln, Wasser, Strom und Benzin in den Gazastreifen einzustellen. Die von Israel angeordnete Abriegelung des dicht besiedelten Palästinensergebiets sei nicht mit dem humanitären Völkerrecht zu vereinbaren. Es sei verboten, Menschen das vorzuenthalten, was sie zum Überleben brauchen, teilte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, in Genf mit. "Bei einer Belagerung die Bewegungsfreiheit von Menschen und Gütern einzuschränken kann nur durch militärische Notwendigkeit gerechtfertigt werden, sonst kommt dies einer kollektiven Bestrafung gleich."
Auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat den Schutz der Zivilbevölkerung im Krieg zwischen der Hamas und Israel angemahnt. Zivilistinnen und Zivilisten zahlten in Konflikten immer den höchsten Preis, erklärte IKRK-Präsidentin Mirjana Spoljaric in Genf. Sie rief die Konfliktparteien auf, ihre Verpflichtungen gemäß dem humanitären Völkerrecht zu achten. Kritische Infrastruktur wie Strom- und Wassernetze dürften nicht angegriffen werden, erklärte Spoljaric. Ungeachtet einer militärischen Blockade müssten die Behörden sicherstellen, dass die Zivilbevölkerung Zugang zu Wasser, Nahrung und medizinischer Versorgung habe.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordert, einen humanitären Korridor zur Versorgung der Zivilbevölkerung im Gazastreifen einzurichten. Der Küstenstreifen am Mittelmeer ist rund 40 Kilometer lang und zwischen sechs und zwölf Kilometer breit.
EU-Staaten wollen Palästinenser weiter unterstützen
Eine überwältigende Mehrheit der EU-Staaten lehnt nach Angaben von EU-Chefdiplomat Josep Borrell ein vorläufiges Einfrieren von Zahlungen an die Palästinensische Autonomiebehörde - das Regierungsorgan mit gemäßigteren Ansichten im von Israel besetzten Westjordanland - ab. Es gebe lediglich zwei oder drei Länder, die dies anders sähen, erklärte Borrell am Dienstagabend nach informellen Beratungen der EU-Außenminister in Muskat, Oman. Es soll demnach nur eine Überprüfung und kein vorläufiges Aussetzen von Zahlungen geben. Welche zwei, drei Länder für einen Zahlungsstopp sind, sagte Borrell nicht.
Mit der EU-Hilfe für die Palästinenser werden nach Angaben der EU-Kommission derzeit vor allem die Finanzierung wichtiger Unterstützungsleistungen für die palästinensische Bevölkerung sowie die der Autonomiebehörde gefördert. Als konkrete Beispiele nennt die Behörde den Gesundheitssektor, Sozialhilfeleistungen für arme Familien sowie Entwicklungsprojekte in Bereichen wie demokratische Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit, Wasser, Energie und wirtschaftliche Entwicklung. Zudem wird auch das Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten unterstützt.
Borrell betonte, es müsse sichergestellt werden, dass keine der Hilfen an die Terrororganisation Hamas durchsickere.
Die Beratungen in Oman finden im Rahmen eines Treffens der Außenminister der EU und des Golf-Kooperationsrates statt. Nicht alle Teilnehmer sind persönlich vor Ort, einige sind per Video zugeschaltet.
Borrell äußerte sich auch zur von Israel angekündigten Blockade des Gazastreifens. Er mahnte Israel, sich an internationales Recht zu halten. "Israel hat das Recht, sich zu verteidigen, aber es muss im Einklang mit dem Völkerrecht, dem humanitären Recht stehen", so Borrell. Einige Entscheidungen stünden im Widerspruch zum Völkerrecht.
Israel kritisiert UN-Hochkommissar für Menschenrechte scharf
Israel hat die Kritik des UN-Hochkommissars für Menschenrechte an der verkündeten kompletten Abriegelung des Gazastreifens zurückgewiesen. Mehr als 900 unschuldige Israelis sind tot. Tausende sind verwundet. 260 wurden bei einem Musikfestival getötet. 100 wurden in einem einzigen Kibbuz ermordet. Und trotzdem kann der Hochkommissar sich nicht durchringen, diese barbarischen Taten als Terrorismus zu bezeichnen», teilte die Vertretung Israels in Genf mit. Israel habe das Recht, sich gegen solche Brutalität zu wehren, und nehme ausschließlich terroristische Ziele in Gaza ins Visier.
Allerdings steht der israelische Vorwurf im Raum, dass die Hamas Zivilisten als "menschliche Schutzschilde" missbrauche. Zudem verstecke sie im Gazastreifen "terroristische Infrastruktur" in zivilen Gebäuden.
Notstandsregierung in Israel rückt näher
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat die Opposition aufgefordert, ohne Vorbehalte in eine Notstandsregierung einzutreten. "Wir befinden uns in einem Krieg zur Sicherung unserer Existenz", sagte er bei einer Ansprache im Fernsehen. Die Spaltungen unter den Israelis erklärte Netanjahu für beendet. "Wir sind alle vereint." Die Koalitionspartner hätten einem entsprechenden Vorschlag zugestimmt, teilte Netanjahus Likud-Partei mit.
Seit Jahresbeginn ist es in Israel zu massiven Protesten gegen einen Justizumbau gekommen, den Netanjahus rechts-religiöse Regierung vorantreibt. Der bittere Streit führte zur Spaltung der Gesellschaft. Politische Beobachter glauben, Israel könnte durch die internen Streitigkeiten so abgelenkt gewesen sein, dass die Gefahr, die von der Hamas ausging, nicht genügend beachtet wurde.
Israel mobilisiert 300.000 Soldaten
Die israelische Armee hat in der Nacht zum Dienstag ihre Vergeltungsschläge auf den Gazastreifen fortgesetzt. Gleichzeitig geht die Mobilmachung von Reservisten im ganzen Land weiter. Nach Armee-Angaben sollen 300.000 Soldaten mobilisiert werden. Das gibt Spekulationen über einen Bodenangriff auf den Gazastreifen neue Nahrung. "Wir haben noch nie so viele Reservisten in einem solchen Ausmaß einberufen", sagte der oberste Militärsprecher, Konteradmiral Daniel Hagari. "Wir gehen in die Offensive."
Die israelischen Grenzorte entlang des Gazastreifens wurden fast vollständig evakuiert. Man habe fast alle Einwohner in sichere Gebiete gebracht, so Hagari. "Es gibt einige wenige Menschen, die bleiben wollen, oder die in den Orten gebraucht werden."
Lage an Grenze zu Gaza wieder unter Kontrolle
Auch die Lage am Grenzzaun zum Gazastreifen ist nach israelischen Angaben wieder unter Kontrolle: In die Abschnitte, in denen Hamas-Kämpfer durchgebrochen seien, würden Minen gelegt, teilte Hagari im Armee-Radio mit. Seit Montag gebe es keine neue Infiltration aus dem Gaza-Streifen. Zu den Gerüchten, dass bewaffnete Kämpfer Tunnel nutzten, um auf israelisches Territorium zu gelangen, sagte Hagari, das Militär habe keine solchen Erkenntnisse. Bis zum frühen Dienstagmorgen sind nach Armeeangaben auf israelischem Gebiet die Leichen von etwa 1500 Hamas-Terroristen entdeckt worden.
Israelische Fernsehsender berichten von inzwischen 900 Todesopfern durch den Angriff der radikal-islamischen Hamas. Weitere 2600 Menschen seien verletzt und Dutzende gefangen genommen worden. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza wurden bei israelischen Luftangriffen auf die blockierte Enklave seit Samstag mindestens 770 Palästinenser getötet und etwa 4000 verletzt.
Das UN-Kinderhilfswerk Unicef spricht von Hunderten israelischen und palästinensischen Kindern, die seit Beginn der Kämpfe ums Leben gekommen sind. Zahlreiche weitere Kinder seien in den vergangenen 72 Stunden verletzt worden. Die von Israel angekündigte Wasser- und Treibstoff-Blockade des Gazastreifens werde das Leiden noch erhöhen.
Hamas strebt Gefangenenaustausch an
Die Hamas bekundet derweil ihre Bereitschaft zu Gesprächen mit Israel. Der stellvertretende Hamas-Chef Saleh al-Arouri deutete die Absicht an, die rund 150 verschleppten Geiseln für Verhandlungen nutzen zu wollen. Palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen würden "kurz vor der Freilassung" stehen, sagte al-Arouri. Unter den Verschleppten sind auch Bürger mehrerer westlicher Staaten, darunter eine Deutsche.
Der hochrangige Hamas-Funktionär Mussa Abu Marsukdem sagte dem Sender Al-Jazeera, seine Organisation habe "ihre Ziele erreicht". Aktuell sitzen laut der Menschenrechtsorganisation Betselem rund 4500 Palästinenser in israelischen Gefängnissen.
Israel nimmt das Schicksal verschleppter Bürger extrem ernst. 2011 hatte sich das Land zuletzt mit der Hamas auf einen Gefangenentausch eingelassen. Im Gegenzug für die Freilassung eines verschleppten israelischen Soldaten wurden mehr als 1000 palästinensische Gefangene freigelassen. Auch der heutige Hamas-Chef im Gazastreifen, Ismail Hanija, kam damals frei. Neben Ägypten war auch Deutschland damals an den Verhandlungen beteiligt.
Katar und Türkei wollen vermitteln
In der aktuellen Situation gibt es Hinweise, dass bereits das Golfemirat Katar zwischen der Hamas und Israel verhandelt. Nachrichtenagenturen melden, katarische Vermittler wollten mit Hamas-Vertretern die Freilassung von israelischen Frauen und Kindern aushandeln, die in den Gazastreifen verschleppt worden seien. Im Gegenzug sollten 36 palästinensische Frauen und Kinder aus israelischen Gefängnissen freigelassen werden. Die Verhandlungen seien mit den USA abgestimmt. Ein Durchbruch sei aber nicht in Sicht.
Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bringt sich als Vermittler ins Spiel. Er rief Israel dazu auf, die Bombardierung der palästinensischen Gebiete einzustellen, und die Palästinenser, Übergriffe auf zivile israelische Siedlungen zu beenden. Die Türkei bereite humanitäre Hilfe für den Gazastreifen vor, sagte er weiter. Es werde keinen Frieden in der Region ohne einen unabhängigen souveränen Staat Palästina geben.
Irans religiöse Führung dementiert Beteiligung Teherans an Hamas-Angriff
Das geistliche Oberhaupt des Iran, Ayatollah Ali Chamenei, hat eine Beteiligung seines Landes an dem Großangriff der Hamas auf Israel zurückgewiesen. Die von manchen in Israel und von seinen Unterstützern verbreiteten "Gerüchte, wonach der Iran hinter der Attacke stehe, seien "falsch", sagte Chamenei bei einer Rede in einer Militärakademie.
Gleichzeitig verteidigte der religiöse Führer die Kämpfe in Israel und forderte "die ganze islamische Welt" auf, "die Palästinenser zu unterstützen". Die Islamische Republik Iran war eines der ersten Länder, das den Hamas-Angriff öffentlich gut hieß. Staatspräsident Ebrahim Raisi sprach am Sonntag von der "legitimen Verteidigung der palästinensischen Nation".
Auch Tote bei Auseinandersetzungen im Westjordanland
Während Israels Armee den Kampf gegen die Hamas-Terroristen weiterführt, hat es auch im von Israel besetzten Westjordanland wieder Auseinandersetzungen mit Toten gegeben. Bei Zusammenstößen mit israelischen Sicherheitskräften sind nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Ramallah drei Palästinenser getötet worden.
Auch am Wochenende, nach Beginn des Großangriffs der im Gazastreifen herrschenden Hamas auf Israel, waren bei gewaltsamen Zusammenstößen mit israelischen Sicherheitskräften mehrere Palästinenser im Westjordanland getötet worden. Dort ist die Sicherheitslage schon seit langem sehr angespannt.
Israels Armee fordert zur Bevorratung auf
Das israelische Militär hat die Menschen im Land angewiesen, sich mit ausreichend Nahrung, Wasser und Medikamenten einzudecken. Die Vorräte sollten für mindestens 72 Stunden reichen. Angesichts leer gekaufter Supermärkte betonte die Armee schließlich, es habe sich lediglich um eine Erinnerung an eine standardmäßige Empfehlung und keine neue Anweisung gehandelt.
Gaza: 137.000 Schutzsuchende in UN-Notunterkünften
Im Gazastreifen haben inzwischen mehr als 137.000 Menschen in Notunterkünften der Vereinten Nationen Schutz gesucht. Wie das UN-Hilfswerk für Palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) mitteilte, sind die Notunterkünfte nahezu vollständig belegt. Es sei zu befürchten, dass sich die humanitäre Lage für die Menschen im Gazastreifen weiter verschärfen werde.
UNRWA berichtet von mehr als einem Dutzend Einrichtungen der Vereinten Nationen, die in Gaza von israelischen Geschossen getroffen wurden. Dabei sei es zu Sachschäden gekommen. Auch eine Schule, die derzeit als Notunterkunft dient, sei getroffen worden. Im Gazastreifen sind knapp 1,5 Millionen Menschen als Flüchtlinge bei dem UN-Hilfswerk registriert.
Krisentreffen der EU-Außenminister
Die Europäische Union hat die Außenminister Israels und der Palästinensischen Autonomiebehörde zu einer Krisensitzung eingeladen. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell schrieb im Kurzbotschaftendienst X, ehemals Twitter, er habe den israelischen Außenminister Eli Cohen und den Ressortchef der Palästinensischen Autonomiebehörde, Rijad al-Maliki, zu einem Notfalltreffen der EU-Außenminister dazu gebeten.
Aus Borrells Umfeld hieß es, beide hätten die Einladung angenommen. Allerdings gilt der Einfluss der Palästinenserregierung, mit Sitz in Ramallah im israelisch besetzten Westjordanland, auf die terroristische Hamas im Gazastreifen als gering. Die EU-Minister werden in Muskat, Oman, tagen, wo bereits ein Treffen der Außenminister der EU und des Golf-Kooperationsrates geplant war.
Bei der Dringlichkeitssitzung wird es auch um weitere Hilfen für Gaza und das Westjordanland gehen. Frankreich und Spanien haben im Vorfeld bereits erklärt, an ihrer Unterstützung für die palästinensische Bevölkerung festhalten zu wollen.
Spaniens Außenminister Jose Manuel Albares sagte dem spanischen Radiosender Cadena SER, man dürfe die Hamas nicht mit der palästinensischen Bevölkerung, der palästinensischen Autonomiebehörde oder den Organisationen der Vereinten Nationen vor Ort verwechseln. Er fügte hinzu, dass die Palästinensergebiete und vor allem der Gazastreifen nach den israelischen Vergeltungsangriffen in naher Zukunft wohl mehr Hilfe benötigen würden. Ähnlich äußerte sich auch das Außenministerium in Paris. Die Regierung halte nichts davon, Hilfen einzustellen, die den Menschen zugute kämen, und das habe man auch der Europäischen Kommission gegenüber deutlich gemacht.
Außenministerin Annalena Baerbock hatte bereits am Montag im Sender n-tv die Notwendigkeit betont, humanitäre Hilfe in den palästinensischen Gebieten fortzusetzen. Sie unterstrich, dass Deutschland keine Terrorgruppen finanziere und die Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen und NGOs sicherstelle, um direkte Zahlungen an die Palästinensische Autonomiebehörde zu vermeiden.
Bundesanwaltschaft ermittelt wegen Hamas-Terrorangriffen
Wegen der Entführungen und mutmaßlichen Tötungen deutscher Staatsbürger in Israel durch die Terrororganisation Hamas ermittelt nun die Bundesanwaltschaft. Ein Ermittlungsverfahren sei eingeleitet worden "gegen unbekannte Mitglieder der Hamas wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung", sagte eine Sprecherin der obersten Anklagebehörde in Karlsruhe.
Das Auswärtige Amt in Berlin geht davon aus, dass es sich bei den Entführungsopfern um Menschen handelt, die alle neben der deutschen auch die israelische Staatsangehörigkeit haben. Unter anderem soll eine 22 Jahre alte Frau entführt worden sein, die nach Auskunft ihrer Familie das Musikfestival nahe der Grenze zum Gaza-Streifen besucht hatte. Das Festival war eines der Ziele der Angriffe gewesen.
qu/fab/ust/rb/ehl/djo/sti/stu (AFP, AP, dpa, Reuters)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert.