UN warnen vor Offensive der Taliban
22. Juni 2021Die Extremisten hätten seit dem Beginn des Abzugs der NATO-Truppen Anfang Mai mehr als 50 der 370 Bezirke des Landes unter ihre Kontrolle gebracht, sagte die UN-Beauftragte für Afghanistan, Deborah Lyons, dem UN-Sicherheitsrat in New York. Die eingenommenen Bezirke lägen rings um die Provinz-Hauptstädte. Das deute darauf hin, dass die Taliban sich positionierten, um diese Städte zu erobern, sobald die ausländischen Truppen vollständig abgezogen seien.
Die Ankündigung aus dem April, dass alle ausländischen Einsatzkräfte das Land in den Folgemonaten verlassen würde, habe ein "Beben" in Politik und Gesellschaft des Landes ausgelöst, sagte Lyons. Ein sich ausweitender Konflikt in Afghanistan bedeute eine größere Unsicherheit für viele andere Länder - in der unmittelbaren Umgebung Afghanistans und weiter weg. Lyons rief den Sicherheitsrat auf, alles zu tun, um die Konfliktparteien zurück an den Verhandlungstisch zu bekommen.
Abzug bis September angekündigt
Die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Linda Thomas-Greenfield, erklärte bei der Videokonferenz, die Welt werde nicht hinnehmen, dass die Taliban die Kontrolle über Kabul und die afghanische Regierung übernehmen. "Die Welt wird weder die Einsetzung einer gewaltsam durchgesetzten Regierung in Afghanistan noch die Wiederherstellung des Islamischen Emirats anerkennen."
US-Präsident Joe Biden will die amerikanischen Truppen 20 Jahre nach Beginn des Afghanistan-Krieges bis zum Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten abziehen. Dies hatte er im April angekündigt, Deutschland und die anderen NATO-Partner schlossen sich ihm an.
Bundeswehr zeigt sich unbeeindruckt
Mit dem Abzug haben die USA am 1. Mai begonnen und mehrere Stützpunkte an die afghanische Regierung übergeben. Nach Pentagon-Angaben ist der Abzug derzeit etwa zur Hälfte abgeschlossen. Kritiker des Abzugs befürchten, dass die Islamisten versuchen werden, wieder die Macht in Afghanistan zu erobern. Die internationalen Truppen sind insgesamt mit ihrem Abzug bereits weit fortgeschritten.
Der Vormarsch der radikalislamischen Taliban in Afghanistan beschäftigt auch die dort stationierte Bundeswehr. "Wir verfolgen die Präsenz und die Entwicklung sehr genau", sagte ein Sprecher des Einsatzführungskommandos in Potsdam der Nachrichtenagentur AFP. Das Bundeswehr-Lager bei Masar-i-Scharif sei "bislang jedenfalls nicht betroffen". Die Taliban rücken derzeit in Nordafghanistan vor, wo auch die Bundeswehr lange für die Stabilisierung zuständig war. Taliban-Kämpfer umstellten bereits am Montag die strategisch wichtige Stadt Kundus. Nach Angaben eines Mitglieds des Provinzrates von Kundus blockierten die Aufständischen wichtige Verbindungsstraßen in die Nachbarprovinzen.
Am Dienstag brachten die militanten Milizen den wichtigsten Grenzposten zu Tadschikistan ganz im Norden der Provinz Kundus unter ihre Kontrolle. Die Islamisten hätten alle Grenzposten, den Hafen und die Stadt von Schir Chan Bandar eingenommen, sagte der Ratsabgeordnete der Provinz Kundus, Chaliddin Hakmi, der Nachrichtenagentur AFP. Nach Angaben eines Offiziers mussten die afghanischen Soldaten all ihre Posten aufgeben. Einige afghanische Soldaten hätten die Grenze nach Tadschikistan überquert. Ein Sprecher der Taliban bestätigte die Einnahme des Grenzpostens.
"Am Zeitplan hat sich nichts geändert"
Westlich von Kundus liegt Masar-i-Scharif, wo im Camp Marmal derzeit noch knapp 1000 Bundeswehr-Soldaten stationiert sind. "Wir sind auf alles vorbereitet", sagte der Sprecher des Einsatzführungskommandos. Zugleich betonte er: "Am Zeitplan für den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan hat sich nichts geändert."
Auch die Bundeswehr hat inzwischen mit dem Abzug ihrer zuletzt 1100 Soldaten in Afghanistan begonnen. Ende April war bereits der von der Bundeswehr genutzte Bereich im Camp Pamir in Kundus an die afghanischen Streitkräfte übergeben worden. Danach folgten die Liegenschaften innerhalb des afghanischen Camps Shaheen in der Provinz Balkh.
kle/rb (rtr, dpa, afp)