"Trotz Tschernobyl hält die Ukraine an der Atomkraft fest"
25. April 2018Deutsche Welle: Frau Kotting-Uhl, Sie sind Vorsitzende des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit im deutschen Bundestag und haben gerade Tschernobyl besucht und sich ein Bild über die Folgen dieser großen Atomkatastrophe in der Ukraine gemacht. Was ist ihr Eindruck?
Verwundert hat mich eine Art schizophrene Haltung zur Atomkraft. Die Ukraine war das erste Land mit einem wirklich großen Atomunfall. Die Folgen sind bis heute absolut nicht bewältigt und auch nach Angaben von Behörden zum Teil nicht zu bewältigen, so wird die Sperrzone von zehn Kilometern nie wieder bewohnbar sein.
Auf der anderen Seite wird die Atomkraft als unverzichtbare Energieerzeugung betrachtet. Es gibt ein Bewusstsein dafür, dass man aus der Kohle, aus den fossilen Energien raus muss und deswegen verharrt man in der Atomkraft. Es gibt wenig Engagement für erneuerbare Energien. Das ist für mich unfassbar.
Wie gehen die Menschen mit dem Unglück um?
Die Wirtschaftslage ist seit dem Krieg mit Russland relativ schlecht und es gibt nicht genügend Geld im Staatshaushalt für die gesetzlich festgelegten Entschädigungen der Opfer von Tschernobyl. Deshalb gibt es auch 12.000 Beschwerden vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Die Betroffenen des Unglücks werden für Atomkraft nicht mehr zu begeistern sein. Oft ist ihr Leben zerstört. In der Sperrzone kann man überall diese Geisterhäuser sehen, durchwuchert von Gestrüpp und Bäumen nach 32 Jahren.
Auf der anderen Seite steht die aufstrebende und sehr europäische Stadt Kiev. Dort heißt es: "Wir brauchen Wachstum, wir brauchen Fortschritt und dafür brauchen wir Atomkraft." Obwohl man noch nicht einmal das Geld für die Entschädigungen hat, wird die Atomkraft als die billigste Energieerzeugungsart betrachtet. Das ist schizophren: Man spaltet das Erlebnis Tschernobyl von der Realität ab.
Die Ukraine hält an der Atomkraft fest. Wie?
Im Moment geht es um die Laufzeitverlängerung. Man rechnete mir vor, dass eine Laufzeitverlängerung pro Reaktor zwischen 300 bis 900 Millionen Euro kostet, ein Neubau aber bis neun Milliarden. Das können sie sich im Moment nicht leisten.
Die angedachte Laufzeit der Reaktoren beträgt 30 Jahre. Nun sollen die Laufzeiten dieser alten und uralten Reaktoren, die inzwischen 30 Jahre alt sind oder bald erreichen, um weitere zehn Jahre verlängert werden.
15 Reaktoren sowjetischer Bauart sind am Netz und davon ist die Laufzeit von inzwischen sieben Reaktoren bereits verlängert worden. Auch denkt man daran, zwei Reaktoren aus den achtziger Jahren fertig zu bauen, die nach dem Super-GAU von Tschernobyl gestoppt wurden.
Über den havarierten Reaktor wurde ein neuer Sarkophag geschoben. Wie erfolgreich ist dieses Projekt?
Das Bauwerk ist ein Glanzstück der Technik, aber noch nicht in Betrieb. Die Strahlenwerte im Innern sind höher als berechnet, deshalb können die Roboter für die Anschlüsse nicht so lange arbeiten, wie es für die Einhaltung des Zeitplans nötig wäre.
Ursprünglich sollte die Schutzhülle Ende 2017 in Betrieb genommen werden. Jetzt hieß es, dass man für Ende 2018 plane. Ich vermute, dass es sich auch noch länger hinziehen kann. Aber natürlich wird das ein deutlich besserer Schutz gegen den Austritt von Strahlung als der alte Sarkophag, der jetzt langsam bröckelig wird. 45 Länder haben sich daran beteiligt und 2,15 Milliarden Euro aufgebracht. Das ist eine große Solidarität.
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In Europa haben einige Länder den Atomausstieg beschlossen, andere Länder wollen ihre alten Reaktoren trotz zunehmendem Risiko noch möglichst lange laufen lassen. Ist auch hier keine Wende in Sicht?
Nein. Wie in der Ukraine gibt es in vielen Ländern der EU die Überzeugung, dass man die Atomkraft braucht, auch um die Klimaschutzziele von Paris erreichen zu können. Die EU-Kommission hat übrigens auch in der Ukraine sehr stark in diese Richtung gewirkt. Polen, Tschechien und Bulgarien wollen die Atomkraft ausbauen bzw. neu einsteigen und in Ländern mit Atomwaffen wie Frankreich und Großbritannien geht die militärische und die sogenannte zivile Nutzung sowieso Hand in Hand.
Glauben Sie, dass Polen noch in die Atomkraft einsteigt und noch einen Neubau initiiert obwohl Strom aus neuen Atomanlagen inzwischen vielfach teurer ist als aus neuen Wind- oder Solaranlagen?
Das ist ja das Irre an der Sache. Es wird nicht richtig gerechnet. Mit dem AKW-Neubau im britischen Hinkley Point haben wir gesehen, dass Atomkraft heutzutage auch ein ökonomisches Desaster ist.
Aber die Länder sagen: "Wir brauchen den Atomstrom, wir müssen aus der Kohle raus und die Erneuerbaren sind zu teuer". Die Berechnungen sind völlig verrückt, alle Folgekosten werden ignoriert.
Die Atomkonzerne stehen weltweit mit dem Rücken an der Wand, bei uns waren es RWE und Eon, in Frankreich sind es EDF und Areva, bei allen anderen Konzernen ist das ähnlich. Überall rote Zahlen. Wenn das in Frankreich nicht zum Teil Staatskonzerne wären, dann wären das richtige Pleiten.
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Der Weg geht aber nicht dahin, dass man diesen Konzernen sagt: "Jetzt baut euch um und stellt euch auf das ein was die Zukunft der Energieversorgung sein wird und was auch ökonomisch viel preiswerter ist". Stattdessen versucht man diese Konzerne mit neuen Forschungsaufträgen zu stützen. Der kleine modulare Minireaktor SMR spielt hier eine große Rolle, auch die Ukraine beteiligt sich an solchen Projekten.
Ich sehe den starken Willen dieser Konzerne, die auf die EU-Kommission offensichtlich einen starken Einfluss ausüben, in der Atomkraft zu bleiben, neue Sicherheiten zu versprechen und in dem alten Geschäftsmodell bleiben wollen. Es wird sich zeigen müssen welche Kräfte stärker sind, diese alten Kräfte der Konzerne oder die Vernunft und die Richtung zu den Erneuerbaren.
Die Konzerne verfolgen ihre eigenen Interessen und wollen mit alten Atomreaktoren noch möglichst lange Geld verdienen. Bei den Bürgern in Europa nimmt aber auch die Sorge vor Unfällen durch die Altreaktoren zu. Wie sehen Sie diesen Interessenskonflikt?
Die Sorgen sind leider völlig berechtigt. Mit der Alterung steigt die Störanfälligkeit. Ab einem Alter von 30, 32 Jahren geht die Kurve der Störanfälligkeit deutlich nach oben, das Risiko wird größer.
Nicht aus Lust und Tollerei wurde eine Laufzeit für Atomkraftwerke von 30 Jahren angedacht. Jetzt gibt es Verlängerungen auf 40 und 50, manche reden von 60 Jahren. Das ist völliger Irrsinn. Mit Nachrüstungen und Kontrollen kann man dieses wachsende Risiko nicht auffangen.
Mich macht das ein bisschen verzweifelt: 32 Jahre nach Tschernobyl und noch nicht mal zehn Jahre nach Fukushima, scheint man schon wieder vergessen zu haben, dass der Mensch fehlerhaft ist und die Technik versagen kann. Dieses Risiko durch längere Laufzeiten von alten Kraftwerken in Europa wächst und ist unverantwortbar.
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Der Konflikt zwischen Konzerninteressen und Bürgerschutz ist also nicht ausgestanden?
Der ist nicht ausgestanden. Ich wünsche mir manchmal, dass die Bürger wieder stärker auf die Straße gehen. Man hat in Deutschland oft den Eindruck, dass alle davon ausgehen, dass mit dem beschlossenen Atomausstieg in Deutschland die Gefahr gebannt sei. Leider ist sie das nicht. Wir wissen von Tschernobyl, wie weit die radioaktive Wolke zieht und wo überall sie abregnen kann.
Wir, die Zivilgesellschaft, müssen uns auch für einen europaweiten Atomausstieg einsetzen. Deutschland muss hier eine starke treibende Kraft sein, sonst werden sich die falschen Kräfte durchsetzen.
Wie sehen Sie hier die Bundesregierung?
Zu defensiv. Es gibt bei der Bundesregierung bisher keine Anzeichen, dass sie geneigt ist, im Ausland aktiv für einen Atomausstieg zu werben. Es gibt bilaterale Atomkommissionen, in denen ein Austausch stattfindet. Aber alles bleibt unverbindlich.
Sylvia Kotting-Uhl ist Vorsitzende des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit im deutschen Bundestag und Mitglied von Bündnis90/Die Grünen.
Das Interview führte Gero Rueter