Andrej Kurkow erhält deutschen Literaturpreis
28. November 2022"Am 24. Februar 2022 schrieb ich kaum etwas auf", so Kurkow im Vorwort zu seinem Buch "Tagebuch einer Invasion". "Vom Geräusch russischer Raketenexplosionen aufgeweckt, stand ich etwa eine Stunde lang am Fenster meiner Wohnung in Kyjiw und schaute auf die leere Straße hinunter, in dem Bewusstsein, dass der Krieg ausgebrochen war, jedoch noch unfähig, diese neue Realität zu akzeptieren."
Kurkows "Tagebuch einer Invasion" erzählt von seinen Freunden, aber auch von Fremden und ganz allgemein von seiner Wahlheimat, der Ukraine, in die seine Familie aus Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, zog, als Kurkow zwei Jahre alt war.
Chronik des Krieges
Jedes Kapitel des Tagebuchs ist mit einem Datum versehen, das dem Leser verrät, wann es geschrieben wurde. Ein früher Eintrag vom 29. Dezember 2021 beschreibt zum Beispiel die Veränderung der COVID-Situation mit dem Wechsel der vorherrschenden Variante von Delta zu Omicron. Der Eintrag vom 23. Februar 2022 (der Tag vor der Invasion Russlands) gibt die Ankündigung des russischen Präsidenten Putin wieder, russische Truppen an der ukrainischen Grenze zu stationieren. Zum ersten Mal sei in Kiew eine gewisse Spannung zu spüren, ist dort zu lesen, doch es herrsche noch keine Panik.
Der Eintrag vom 24. Februar, dem Tag des Einmarsches, ist sehr kurz. Kurkow schreibt, das er am Abend zuvor Borschtsch für ein paar Journalisten, die zu Besuch gekommen waren, zubereitet hatte. Und dass er gehofft habe, Putin würde das Essen nicht stören, was er nicht tat. Doch um fünf Uhr morgens kamen die Raketen. "Jetzt befinden wir uns im Krieg mit Russland. Aber die U-Bahn in Kiew fährt wie gehabt und die Cafés haben geöffnet."
Kurz darauf forderte Kurkow in einem Gespräch mit der DW ein entschiedenes Vorgehen der westlichen Länder gegen die russische Invasion: "Eine klare Reaktion würde Putin zwingen, entweder ganz zu stoppen oder zumindest eine lange Pause von seinen weiteren Aktionen einzulegen. Leider haben wir als Schriftsteller und generell Künstler weniger Einfluss auf die Situation, als unsere Kollegen während des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Das geschriebene, gesprochene Wort hat an Gewicht verloren. Das bedeutet aber nicht, dass man schweigen darf."
Ein in Russland geborener Ukrainer
Andrej Kurkow, geboren am 23. April 1961, ist einer der bekanntesten Autoren und Intellektuellen der Ukraine. Er beherrscht elf Sprachen, schreibt aber hauptsächlich auf Russisch. Kurkow hat 19 Romane verfasst, darunter das international gefeierte Buch "Der Tod und der Pinguin" (1996), "Ukrainische Tagebücher" (2014), das ursprünglich auf Deutsch erschien, und "Graue Bienen" (2020).
"Mit Andrej Kurkows 'Tagebuch einer Invasion' wird ein Werk ausgezeichnet, das zugleich als eindringliche Chronik wie als kritische Reflexion einer politischen und zivilisatorischen Katastrophe zu lesen ist", schreibt die Jury des Geschwister-Scholl-Preises.
In seinem Buch, so die Jury weiter, untersuche Kurkow genau, wie der Krieg das Leben der Menschen verändert habe. "Nicht zuletzt im Nachdenken über die eigene Familiengeschichte führt Kurkow einem zudem die lange Unterdrückungsgeschichte der Ukraine vor Augen, die von zahlreichen Deportationen und Zwangsvertreibungen gekennzeichnet ist und dennoch eine nun bedrohte politische Tradition des Individualismus und der Liberalität hervorgebracht hat, die Freiheit höher bewertet als Sicherheit und ökonomische Stabilität."
In seinem "Tagebuch einer Invasion" sowie in dessen Vorgänger von 2014, der sich mit den Maidan-Protesten und Putins Annexion der Krim befasst, "beweist Andrej Kurkow ganz im Sinne des Vermächtnisses der Geschwister Scholl ein hohes Maß an intellektueller Unabhängigkeit und moralischem Verantwortungsbewusstsein im Kampf um ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung", so die Jury.
Der Geschwister-Scholl-Preis
Kurkow wird am 28. November in München mit dem Geschwister-Scholl-Preis geehrt. Der Preis wurde in den 1980er-Jahren von der Stadt München und dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels gestiftet und wird in Erinnerung an die Geschwister Hans und Sophie Scholl verliehen.
Die Scholls waren Mitglieder der "Weißen Rose", einer 1941 von Studierenden und Lehrenden der Universität München gegründeten Gruppe, die sich gegen die Nazi-Diktatur wandte. Die Mitglieder der "Weißen Rose" verteilten Flugblätter und klebten Plakate mit Slogans wie "Nieder mit Hitler" und "Freiheit" an öffentliche Gebäude, zunächst in München, dann auch in Städten wie Hamburg und Berlin.
Im Februar 1943 verteilten Hans und Sophie Scholl Flugblätter im Hauptgebäude der Universität und wurden verhaftet, als Sophie Scholl dabei erwischt wurde, wie sie einen Stapel Flugblätter von einem Balkon hinunterwarf. Sie wurden zum Tode verurteilt und einige Tage später hingerichtet.
Adaption aus dem Englischen: Paula Rösler