Ukraines Olympia-Starter zwischen Sport und Krieg
17. Juli 2024Igor Radiwilow wacht jeden Tag mit Schmerzen in den Schultern auf. Das jahrelange Training an den Ringen, eine seiner beiden Lieblingsdisziplinen, hat seinen Tribut gefordert. Und doch macht der Turner aus der Ukraine weiter. Denn er weiß, dass seine schmerzenden Schultern bei den Olympischen Spielen in Paris die Hoffnungen einer ganzen Nation tragen werden. Einer Nation, die nun schon im dritten Jahr unter dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine leidet.
"Seit dem Beginn des Kriegs hat die ganze Welt gesehen, wie die Ukrainer, insbesondere die Athleten, diese starken Menschen, ihre Arbeit fortsetzen, egal was passiert", sagte Radiwilow der DW vor einer Olympia-Trainingseinheit in der ostdeutschen Stadt Cottbus. "Und natürlich bin ich stolz darauf, bei solch hochkarätigen Wettkämpfen die Fahne unseres Landes hochzuhalten. Ich bin stolz darauf, mein Land zu vertreten."
Ukrainische Athleten müssen im Ausland trainieren
Wie viele ukrainische Spitzensportlerinnen und -sportler ist auch der 31 Jahre alte Turner seit dem Ausbruch des Kriegs im Februar 2022 gezwungen, im Ausland zu trainieren. Seine Mannschaftskameraden sind über ganz Europa verstreut. Illia Kowtun zum Beispiel, der ukrainische "Sportler des Jahres 2023" und eine der Goldmedaillen-Hoffnungen des Landes in Paris, hält sich in Kroatien auf.
"Jeder von uns verfolgt seine eigenen Ziele", sagt Radiwilow. "Im Mannschaftswettbewerb geht es vor allem um gute individuelle Leistungen. Für mich ist es ganz praktisch, hier zu trainieren, die anderen Jungs trainieren woanders. Wir kommen dann [in Paris - Anm. d. Red.] zusammen, und es gibt keine Probleme, gemeinsam anzutreten."
Die Aktiven, die nicht in der Lage waren, die Ukraine zu verlassen, stünden jedoch "unter ständigem Druck und unerbittlichem Stress", so Radiwilow. "Es ist psychisch sehr schwierig. Raketen, Explosionen, Stromausfälle, Luftalarm. Die Athleten dort müssen sich daran anpassen und unter solch schwierigen Bedingungen trainieren."
In den ersten beiden Monaten nach dem russischen Angriff saß auch Radiwilow in der Hauptstadt Kiew fest, als Mann im wehrpflichtigen Alter. "Wir standen unter großem Schock und wussten nicht, was wir tun sollten. Von Sport oder Training für Wettkämpfe war keine Rede mehr. Der Krieg begann, und alles kam zum Stillstand. Das waren die schwierigste Zeit."
Großeltern bei russischen Angriffen getötet
Im Olympia-Stützpunkt Cottbus trainiert Radiwilow sechs Stunden am Tag an den Ringen und für den Sprung - mit einigen der besten deutschen Turnier. Er kennt sie alle gut, denn Radiwilow startet seit 2014 für den SC Cottbus in der Turn-Bundesliga der Männer. Seine Ehefrau und der gemeinsame drei Monate alte Sohn sind diesmal in Kiew zurückgeblieben.
"Ich muss mich auf die Olympischen Spiele vorbereiten", sagte Radiwilow. "Ich habe die volle Unterstützung, und auch meine Frau bekommt alle Hilfe, die sie braucht. Die Entscheidung, hier in Deutschland für die Olympischen Spiele zu trainieren, ist also nicht allein meine, sondern wir haben sie gemeinsam in der Familie getroffen. Meine Familie ist in Sicherheit, und alles ist in Ordnung."
Das war nicht immer so. Zwei seiner Großeltern wurden bei russischen Raketenangriffen auf seine Geburtsstadt Mariupol im Osten des Landes getötet. Der Turner widmete ihnen die Bronzemedaille, die er bei den Europameisterschaften 2022 in München gewann.
Nach Angaben des ukrainischen Sportministeriums wurden im Krieg mit Russland inzwischen mehr als 470 ukrainische Sportler und Trainer getötet. Mehr als 500 Sportanlagen wurden beschädigt oder zerstört. Hat Radiwilow ein schlechtes Gewissen, weil er jetzt weit weg von Tod und Zerstörung in seinem Heimatland ist? "Wir müssen so leben, wie es den Umständen entspricht", antwortete der Turner. "Es gibt da draußen Menschen, deren Leben viel schlimmer ist. Ich befinde mich gerade an dem Ort, an dem ich in diesem Moment sein muss."
Ukraine will in Paris die Aufmerksamkeit der Welt
Da viele Athletinnen und Athleten aus Russland und dem verbündeten Belarus nicht an den Wettkämpfen in Paris teilnehmen dürfen, ist die Diskussion über einen möglichen ukrainischen Boykott der Spiele abgeebbt. "Das Wichtigste ist, dass wir in der Lage sind, unsere Leistung zu bringen", sagte Radiwilow.
Für die Ukraine sei es wichtig, bei den Olympischen Spielen dabei zu sein und "die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich zu ziehen", sagte der ukrainische Sportminister Matwij Bidny im vergangenen Mai der DW. "Uns ist klar, dass wir diese Plattform nicht verlieren dürfen. Wir müssen dort auf die ukrainische Position hinweisen, die ukrainische Widerstandsfähigkeit und den ukrainischen Siegeswillen."
Radiwilow ist alles andere als ein Fremder auf der olympischen Bühne. In Paris startet er bereits zum vierten Mal bei Olympischen Spielen. Sein größter Erfolg bislang: Bronze im Sprung bei den Spielen in London 2012. Dies sei eine Disziplin, so der Turner, in der seine harte Arbeit und seine Opferbereitschaft in einen nur wenige Sekunden dauernden Moment mündeten. Seine lange Erfahrung bei olympischen Spielen sei dabei nicht entscheidend.
"Es spielt keine Rolle, ob man du eine, vier, fünf oder sechs Spiele mitgemacht hast", sagte Radiwilow. "Ich konzentriere mich ganz darauf, mir selbst zu beweisen, dass ich dazu in der Lage bin. Und solange ich genug Kraft habe, muss ich mein Bestes geben."
Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.