Könnte Russland für Umweltkriegsverbrechen angeklagt werden?
20. August 2024Es sind Bilder, die um die Welt gingen. Am 6. Juni 2023 kommt es im Kachowka-Staudamm im Südosten der Ukraine zu Explosionen. Kurz darauf bricht der Damm.
Die Wassermassen überspülen in rasender Geschwindigkeit kilometerweit das Umland. Sie reißen ganze Ortschaften mit sich. Zehntausende Menschen sind betroffen, die genaue Zahl der Toten ist bis heute ungeklärt.
Rund 600 Tonnen Rohöl laufen laut ukrainischen Angaben aus beschädigten Industrieanlagen aus. Auch Chemikalien aus zerstörten Fabriken belasten Wasser, Böden, Ökosysteme und landwirtschaftliche Flächen schwer, so Experten der Vereinten Nationen. Der Krieg ist nicht nur eine menschliche, sondern auch eine ökologische Katastrophe.
Nun könnte die Sprengung des Kachowka-Staudamms zum Gegenstand eines möglicherweise bahnbrechenden Verfahrens gegen Russland werden.
Ukrainische Behörden sammeln derzeit Beweise, um Russland in einem Verfahren für das Begehen von Kriegsverbrechen vor den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag zu bringen.
Dabei geht es auch um die Zerstörung der Umwelt durch Kriegshandlungen. Die Ukraine beschuldigt Russland, die Explosion verursacht zu haben, Russland bestreitet dies.
"Die Umwelt darf nicht länger ein stilles Opfer des Krieges bleiben", so der ukrainische Minister für Umweltschutz und natürliche Ressourcen, Ruslan Strilets, im DW-Interview.
"Die Menschheit muss begreifen, dass Krieg teuer ist. Jeder Staat muss begreifen, dass Krieg teuer ist. Die Zerstörung der Umwelt ist teuer."
Was will die Ukraine?
Die Explosion des Damms und die Überflutung sind nur eines von vielen Umweltverbrechen, denen die ukrainischen Behörden derzeit nachgehen, und die in die Anklage gegen Russland eingehen könnten.
Die ukrainische Umweltbehörde beziffert die bisherigen Schäden des Krieges an Wäldern, Böden, Luft und Wasser durch die russische Invasion in über 5000 Fällen auf über 57 Milliarden Euro.
Bis Ende 2023 wurden rund 500 Kläranlagen im Land zerstört, mindestens 20 Prozent der Naturschutzgebiete seien bedroht. Der ukrainische Generalstaatsanwalt Andrij Kostin hofft, den Rahmen für eine Anklage bis Ende des Jahres fertigzustellen.
"Das Ausmaß der Kontaminierung und der Schäden kann in vielen Gebieten nur geschätzt werden, da die Sammlung von Daten extrem schwierig ist", so Oleksii Vasyliuk, Leiter der ukrainischen Umweltorganisation Nature Conservation Group.
Die ukrainische Nichtregierungsorganisation Ecoaction konnte in einigen Gebieten allerdings Bodenproben entnehmen. Die Analyse der Böden im umkämpften Donbass-Gebiet ergab, dass das gesamte Erdreich durch die Gefechte mit hochgiftigen Schwermetallen belastet ist.
Teilweise lagen die Werte für Quecksilber, Vanadium und Cadmium über dem Hundertfachen der üblichen Belastung. Schwermetalle sind in hohen Konzentrationen extrem giftig, da sie sich im Körper anreichern und häufig nicht abgebaut werden können.
Vasyliuk geht davon aus, dass die Schäden an Luft, Wasser und Böden noch Jahrzehnte nach Kriegsende nachwirken werden. Und dass Landwirtschaft in einigen der heute umkämpften Gebiete auf lange Zeit kaum möglich sein wird.
Umweltminister Strilets fordert, Russland solle zur Rechenschaft gezogen werden. Außerdem wolle man einen Präzedenzfall schaffen und geeignete Verfahren der internationalen Strafverfolgung entwickeln, damit in Zukunft Kriegsführung auf Kosten der Umwelt nicht ungestraft bleibe.
Ein Verfahren zöge sich allerdings über viele Jahre hin, falls es vom IStGH angenommen würde, vermutet Aaron Dumont. Er forscht zu Umweltfragen im Völkerrecht an der Ruhr Universität in Bochum. Für die Ukraine werde es dabei auch um den Anspruch auf russische Reparationszahlungen gehen.
Wann sind Umweltschäden Kriegsverbrechen?
Die Vereinten Nationen definieren die Zerstörung der Umwelt nur dann als Kriegsverbrechen, wenn sie in keinem Verhältnis zum militärischen Vorteil des Verursachers steht und außerdem schwere, weitreichende und langfristige Schäden für die Bevölkerung zur Folge hat.
IStGH-Chefankläger Karim Khan hatte im Februar angekündigt, dass Verbrechen an der Umwelt in Zukunft stärker verfolgt und in den Fokus genommen würden.
Bislang wurde noch nie ein Land oder eine Person für die Zerstörung der Umwelt im Sinne eines Kriegsverbrechenverfahrens verurteilt. Das liegt auch an der schwammigen Definition im Völkerrecht, sagt Aaron Dumont.
"Es muss bewiesen werden, dass es in zehn Jahren immer noch eine messbare Umweltzerstörung gibt, die auf diesem Beschuss oder dieser jeweiligen Form des Krieges beruht," so Dumont. In der Vergangenheit sei es sehr schwer gewesen, dies zu beweisen.
Brennende Ölfelder im Irak
Als Beispiel nennt er einen Fall von 1991. Im Golf-Krieg zwischen Kuwait und dem Irak setzten irakische Truppen bei ihrem Rückzug über 700 kuwaitische Öl-Felder in Brand und verursachten dadurch eine Umweltkatastrophe in der gesamten Region.
Jeder normale Mensch würde sagen, es handle sich hier um ein Kriegsverbrechen mit Blick auf die Umwelt, so Dumont. "Aber damals, in den 1990er Jahren, war es für Geologen sehr schwierig, nachzuweisen, dass die Folgen dieser Brände noch zehn Jahre später gemessen werden können. Es war methodisch einfach nicht möglich."
Heute sei das anders. Dank Satellitenbildern und weiterentwickelter wissenschaftlichen Methoden hält Dumont die Erfolgsaussichten einer Klage gegen Russland in einigen Fällen für vielversprechend.
Verbrechen anerkennen
Darunter auch die Sprengung des Kachowka-Staudamms. Käme es zu einem Urteilsspruch, wäre dies ein historischer Moment.
"Es würde wirklich ein Durchbruch sein, ein bahnbrechender Moment im Umweltrecht", so Dumont.
Allerdings ist es nicht sicher, was eine Verurteilung bewirken würde. Russland ist kein Mitglied des Rom-Statuts, der vertraglichen Grundlage des IStGH, und erkennt die Urteile des IStGH nicht an.
Dumont weißt auf einen weiteren Punkt hin. "Wir wissen aus der Forschung, das es für die Betroffenen sehr wichtig ist, dass diese Verbrechen anerkannt werden. Das sind zum Beispiel Landwirte oder andere Menschen in der Region, die abhängig von der Natur sind. Sie wollen, dass ihre Anliegen auch Teil solcher Verfahren sind."