Selenskyjs Siegeszug geht weiter
21. Juni 2019Ein Präsident ohne eigene Parlamentsmehrheit - in diesem Zustand wollte Wolodymyr Selenskyj nicht lange bleiben. Kurz nach seinem Amtsantritt im Mai löste der Staatschef das Parlament auf und setzte für den 21. Juli Neuwahlen an, drei Monate vor dem regulären Termin.
Das Verfassungsgericht hat am Donnerstag die Entscheidung bestätigt. Hintergrund des Rechtsstreits war die Frage, wann die Koalition im jetzigen Parlament zerfallen ist – bereits 2016 oder erst im Mai 2019.
Selenskyjs Erfolgsrezept: jung, hip und politikfern
Einen Monat vor der Abstimmung sieht es aus, als würde der ehemalige Komiker und Schauspieler seinen Siegeszug in der Politik fortsetzen können. Selenskyjs Partei "Diener des Volkes" liegt in Umfragen bei 40 bis 50 Prozent und damit weit vor den anderen. Benannt ist sie nach einer beliebten TV-Satireserie, in der Selenskyj einen zufällig zum Präsidenten gewählten Lehrer spielt. Die Partei existierte bisher eher auf dem Papier und wird nun aus der Retorte kreiert.
Selenskyj pflegt dabei sein Image eines Außenseiters, der vieles anders macht und aufräumen will. Außerdem nutzt er geschickt die Abscheu, die viele Ukrainer seit Jahren gegenüber etablierten Politikern und Parteien empfinden. Der 41-Jährige gibt sich volksnah und umgibt sich mit jungen hippen Menschen aus der Mittelschicht. Auf der Wahlliste soll es keine Politiker geben, die bereits im Parlament vertreten waren. Die meisten Kandidaten sind zwischen 35 und 45 Jahre alt, kommen aus der Privatwirtschaft und sind einem breiten Publikum unbekannt.
Ideologisch will sich "Diener des Volkes" als eine Partei des Libertarismus verstehen, obwohl die meisten Ukrainer keine Ahnung von dieser eher marginalen libertären politischen Strömung haben dürften. Das Wahlprogramm verspricht, Korruption auszurotten und mehr direkte Demokratie einzuführen. Ganz wichtig scheint für Selenskyj die Digitalisierung im staatlichen Sektor zu sein. In der Außenpolitik will seine Partei den bisherigen westlichen Kurs Richtung NATO und EU fortsetzen, jedoch ohne konkrete Versprechen. Es scheint, als würde Selenskyj mit prowestlichen Bekenntnissen, etwa bei Besuchen in Brüssel, Paris und Berlin, versuchen, sein umstrittenes Image als latent prorussischer Politiker abzulegen.
Auf der Suche nach Koalitionen
Auf Platz zwei liegt in vielen Umfragen mit rund zehn Prozent die Partei "Oppositionelle Plattform - für das Leben", ein breites Bündnis aus ehemaligen Mitgliedern der früher regierenden "Partei der Regionen" des 2014 nach Russland geflüchteten Präsidenten Viktor Janukowitsch. Angeführt wird die Partei vom 60-jährigen Jurij Bojko, der unter Janukowitsch Vizeregierungschef und Energieminister war.
Anders als beim "Diener des Volkes" sind auf der Wahlliste der Partei viele bekannte Gesichter, darunter ganz vorne Wiktor Medwetschuk, ehemaliger Amtschef des früheren Präsidenten Leonid Kutschma. Medwedtschuk hat enge Kontakte zu Russlands Präsidenten Wladimir Putin.
Bojko und Medwetschuk reisten jüngst zweimal nach Moskau, trafen sich mit der russischen Führung und signalisierten die Bereitschaft zu einer Annäherung. Im Wahlprogramm positioniert sich die "Oppositionelle Plattform" als eine Partei, die vor allem Frieden in die Ostukraine bringen wird. Ihre Hochburgen sind im Osten und Süden der Ukraine.
Im neuen Parlament dürfte diese Partei ihren Namen ändern müssen, denn sie wäre dann höchstwahrscheinlich nicht in der Opposition, sondern würde sich einer neuen Koalition um die Selenskyj-Partei anschließen. Noch hält sie sich mit Koalitionsaussagen zurück, doch es gibt inhaltliche Überschneidungen, die eine mögliche Allianz nahelegen. Dazu zählen etwa der öffentliche Gebrauch der russischen Sprache oder Referenden als Mittel direkter Demokratie. Auch personelle Verbindungen gibt es. So wird die Liste von "Diener des Volkes" von Dmytro Rasumkow angeführt, einem Jungpolitiker, der früher Mitglied in der "Partei der Regionen" war.
Auch die Partei der ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Tymoschenko hat bereits angedeutet, eine neue Koalition um Selenskyj unterstützen zu wollen. In Umfragen liegt Tymoschenkos "Vaterlandspartei" bei sieben bis zehn Prozent und dürfte die Fünf-Prozent-Hürde sicher schaffen.
Neue Stimme in der Opposition
In der Opposition zum neuen Präsidenten werden nach der Parlamentswahl wahrscheinlich nur noch die Partei des früheren Präsidenten Petro Poroschenko sowie eine neue Partei "Golos" ("Stimme") des beliebten Rocksängers Swjatoslaw Wakartschuk sein. Beide liegen einen Monat vor der Wahl bei rund sieben Prozent, wobei die Poroschenko-Partei an Zustimmung verliert, während die "Stimme" von Wakartschuk zulegt. Der nach der Niederlage bei der Präsidentenwahl angeschlagene Poroschenko hat seinen Namen aus dem Namen seiner Partei entfernt und sie in "Europäische Solidarität" umbenannt. Ob das und ein personeller Umbau ihm helfen, sein politisches Erbe zu retten, ist noch unklar. Sein Parteiprogramm spricht von einer "Bedrohung" durch "Revanchisten". Gemeint sind Selenskyj und die "Oppositionelle Plattform".
Der 44-jährige Wakartschuk gründete seine Partei nach dem Sieg von Selenskyj und gilt ähnlich wie Poroschenko als sein politischer Gegenspieler. Er meidet jedoch direkte verbale Angriffe auf den neuen Präsidenten. Wie Selenskyj legt Wakartschuk Wert darauf, neue und unverbrauchte Gesichter ins Parlament zu bringen. Sowohl Poroschenko als auch Wakartschuk haben ihre Hochburgen in der Westukraine. Ihr Wählerpotenzial scheint dadurch begrenzt. Sie dürften im neuen Parlament in der Minderheit sein.