Ukraine-Krieg verdirbt Russlands Webcam-Models das Geschäft
5. November 2023Die Webcam-Branche boomt in Russland seit Jahren, trotz aller Versuche der Behörden, diesen "grauen Markt" der erotischen Onlinedienste zu bekämpfen. Während der Coronavirus-Pandemie waren Webcams besonders gefragt, doch seit Russlands Invasion der Ukraine ist das Geschäft für russische Models nicht mehr so einfach. Die DW hat mit mehreren gesprochen. Ihre Namen hat die Redaktion geändert, um ihre Anonymität zu wahren.
Nach dem Studienabschluss ein Cybersex-Job
Auf speziellen Plattformen bieten Models Streams meist erotischen Inhalts an. Es gibt kostenlose Chats zwischen zwei Personen oder mehreren. User können die Models auffordern, ihnen gegen Bezahlung bestimmte Wünsche zu erfüllen. Ferner gibt es Einzelchats, die minutengenau abgerechnet werden. Die Wünsche der Kunden reichen vom Gespräch oder Flirt bis hin zu virtuellem Sex oder dem Gebrauch bestimmter Fetische.
Ein stabiles und überdurchschnittliches Einkommen, sagen die Models, sei der Hauptgrund für ihre Webcam-Arbeit.
Webcam-Studios bieten auf ihren Sites Models spezielle Tools an, mit denen sie ihre potentiellen Einnahmen berechnen können. So verspricht das Sankt Petersburger Studio Exotica bei einer 40-Stunden-Woche ein Monatseinkommen von 120.000 Rubel (rund 1215 Euro). Doch ein neues Model kann schon am ersten Einsatztag umgerechnet etwa 20 Euro verdienen, mit Grundkenntnissen der englischen Sprache bis zu 75 Euro und mit einem guten Erscheinungsbild, hochwertiger Videoausrüstung und Sextoys sogar 200 Euro am Tag und mehr. Laut Russlands Statistikamt betrug im zweiten Quartal dieses Jahres das monatliche Durchschnittsgehalt in Russland 73.534 Rubel (umgerechnet rund 745 Euro).
"Ich habe einen vernünftigen Beruf erlernt und habe nach meinem Studienabschluss viele gute Jobangebote gehabt, aber die Bezahlung ist einfach nicht mit der im Webcam-Geschäft vergleichbar", betont das Model Angelina im Gespräch mit der DW. Der Wettbewerb in der Branche habe sich aber seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine verschärft. So sei die Zahl russischer Frauen auf Webcam-Plattformen gestiegen. Dies hat teilweise damit zu tun, dass viele Bürger der Russischen Föderation wegen des Krieges in Nachbarländer gezogen sind und vor Ort keine Arbeit finden.
Wirtschaftssanktionen gegen Webcam-Models
Russlands Invasion der Ukraine verändert das Leben vieler Russen. Webcam-Models sind da keine Ausnahme. Angelina sagt, als der Krieg begonnen habe, sei sie erstmals von ausländischen Kunden wegen ihrer Herkunft beleidigt worden. Zudem sei sie auf der beliebten Plattform OnlyFans wegen ihrer russischen Staatsbürgerschaft gesperrt worden. Dadurch seien ihr Einkünfte entgangen. Jetzt arbeitet die junge Frau auf der Plattform Chaturbate, wo sie abzüglich der Gebühren für die Plattform im Schnitt umgerechnet monatlich 2100 Euro einnimmt, und das an nur 17 Arbeitstagen mit jeweils vier Stunden Einsatz.
"Mein Account bei OnlyFans brachte mir ungefähr 300 US-Dollar im Monat. Ich habe auch eine Seite auf der Plattform Fansly, aber da komme ich selten auf 100 US-Dollar", so Angelina.
Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland wegen des Angriffskrieges trafen also auch Webcam-Models. Sie mussten sich schnell neue Plattformen erschließen. Wie vorher schon bekommen sie ihre Einnahmen meist in Kryptowährungen und über ausländische Zahlungssysteme. So umgehen sie die russischen Steuerbehörden.
Hass im Chat gegen russische Camgirls
Seit Kriegsbeginn sind auch viele User in Chats mit Russland verunsichert. Sie erkennen russische Models anhand ihres Akzents und Aussehens. Um Aggressionen von Kunden zu vermeiden, behaupten viele Models, sie streamten aus der Ukraine oder Belarus. Einige Frauen gaben sich in den ersten Monaten des Krieges sogar als Ukrainerinnen aus, um mehr zu verdienen. Doch die Plattformen setzten dem schnell ein Ende, indem sie die Accounts solcher Models sperrten.
Selbst wer sich offen gegen den Krieg stellt, ist im Chat nicht vor Beleidigungen sicher. "Im ersten Monat nach Kriegsbeginn schlug mir eine regelrechte Welle des Hasses entgegen. Jemand nannte mich einen russischen Ork", erzählt Angelina. Stammkunden hätten sich aber für sie eingesetzt. Als Orks, hässliche und böse Wesen aus dem Fantasyroman "Herr der Ringe", bezeichnen viele Ukrainer die russischen Militärs.
Auch Ekaterina, die auf der Plattform LiveJasmin streamt, berichtet von Hasskommentaren. "Ich komme nicht damit hinterher, die User zu blockieren, die mich noch wütender machen und verletzen wollen, nur weil ich Russin bin. Auf Websites kann man gewisse Wörter verbannen, damit sie im Chat nicht auftauchen, aber sie sind dann nur für die Models nicht sichtbar." Streit über Politik im Onlinechat schreckt Kunden ab, sagt Ekaterina, und das kostet Traffic und Einnahmen.
Das aggressive Verhalten gegenüber Russen ist auf den Websites inzwischen deutlich zurückgegangen, stellt Webcam-Model Oleg fest. "Beleidigungen gab es nur zu Beginn des Krieges, aber jetzt ist allen alles egal. Vielen ist doch klar, dass nicht die Russen schuld sind, sondern die russische Führung."
Die einzige Plattform, die die Zusammenarbeit mit russischen Staatsbürgern aufkündigte, war OnlyFans. Begründung: Es sei schwierig, Geld nach Russland zu überweisen. Die restlichen Plattformen, die sich bislang zu Anfragen der DW nicht geäußert haben, stehen weiterhin den Models aus der Russischen Föderation zur Verfügung, sie müssen dafür aber VPN-Dienste nutzen.
Erotische Streams bleiben straflos - außer bei Queeren
In russischen Gesetzen kommt das Webcam-Geschäft gar nicht vor, daher gibt es auch kein direktes Verbot. Allerderdings kann man in Russland gemäß Artikel 242 des Strafgesetzbuches wegen Vorführung und Werbung für pornografisches Material strafrechtlich verfolgt werden, so der russische Anwalt Andrej Popow. Dafür drohen Haftstrafen von zwei bis fünf Jahren. Falls mehrere Personen sich absprechen, die Tat zu verüben, erhöht das die Strafe auf sechs Jahre.
Doch Models würden praktisch in Ruhe gelassen, sagt Popow. Häufiger verfolgten die Behörden Admins und Betreiber von Webcam-Studios. Aber auch sie erhielten selten strenge Urteile. "Wenn eine Person nicht vorbestraft ist und ihre Schuld eingesteht, endet so ein Verfahren mit einer Bewährungsstrafe."
Laut Popow drohen vor allem dann tatsächlich Strafen, wenn gleichgeschlechtliche Partner im Stream sind. Diese fallen unter das Verbot von "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" und werden mit einer Geldstrafe von 100.000 bis 200.000 Rubel geahndet (umgerechnet rund 1000 bis 2000 Euro).
Um das Risiko einer Strafverfolgung zu minimieren und mehr zu verdienen, arbeiten manche Models nicht mit Webcam-Studios zusammen, sondern melden sich selbst direkt auf den Plattformen an. Die Studios haben es jedoch gar nicht eilig, ihre Aktivitäten einzustellen - trotz der verstärkten Aufmerksamkeit der Behörden. Häufig verschicken Admins Arbeitsangebote über Instant Messenger und soziale Netzwerke. Auf der größten russischen Rekrutierungsplattform HH.ru kann man mit dem Suchwort "Model" gleich mehrere Unternehmen in verschiedenen Städten Russlands finden, die insgeheim junge Frauen und Männer zu einem Vorstellungsgespräch vor eine Webcam einladen. Ihr Versprechen: hohe Einnahmen und ein flexibler Einsatzplan.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk