Aktuell: Weitere Geländegewinne für die Ukraine
12. September 2022Das Wichtigste in Kürze:
- Präsident Selenskyj sieht möglichen Wendepunkt im Krieg
- Kreml hält an Zielen des Krieges gegen die Ukraine fest
- Massive Stromausfälle im Osten der Ukraine teils behoben
- IAEA-Chef will Waffenruhe statt Entmilitarisierung um Saporischschja
- Visa-Beschränkungen für Russen in Kraft
Nach Angaben der Ukraine hat die Armee binnen 24 Stunden die Kontrolle über 20 Siedlungen zurückgewonnen. "Die Befreiung der russisch besetzten Ortschaften in den Regionen Charkiw und Donezk geht weiter", so der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte in einem Lagebericht.
Eine von der Regierung in Moskau veröffentlichte Karte der ostukrainischen Region Charkiw bestätigt einen weitgehenden Rückzug russischer Truppen aus dem Gebiet. Die vom russischen Verteidigungsministerium am Sonntag beim täglichen Briefing vorgestellte Karte zeigt, dass die russische Armee nur noch einen kleinen Teil im Osten der Region östlich des Flusses Oskol kontrolliert. Beim Briefing am Vortag hatte die Karte noch ein weitaus größeres Gebiet als unter russischer Kontrolle stehend ausgewiesen. Am Samstagnachmittag hatte die russische Armee überraschend bekannt gegeben, ihre Streitkräfte aus Teilen der Region Charkiw weiter südlich in die Region Donezk "umzugruppieren".
Anfang des Monats hatte die ukrainische Armee eine Gegenoffensive im Süden angekündigt. In den vergangenen Tagen gelang ihr dann ein überraschender Durchbruch der russischen Linien in der Region Charkiw.
Selenskyj sieht möglichen Wendepunkt
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnet die Gegenoffensive im Großraum Charkiw als möglichen Wendepunkt in dem monatelangen Krieg mit Russland. Im Winter könnten die ukrainischen Streitkräfte weitere Geländegewinne erzielen, falls die Ukraine mehr leistungsstarke Waffen erhalte, sagt Selenskyj in einem Interview mit dem Sender CNN.
Laut Selenskyj gelang es der ukrainischen Armee inzwischen auch die strategisch wichtige Stadt Isjum zurückzuerobern. Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, sprach am Sonntag von 3000 Quadratkilometern Fläche, die die Ukraine seit Anfang September von den russischen Truppen zurückerobert habe. Selenskyj hatte am Tag zuvor noch von rund 2000 Quadratkilometern Gebiet gesprochen.
Nach Angaben aus Kiew zieht sich die russische Armee auch aus Teilen des südlichen Gebiets Cherson zurück. In einigen Orten hätten die Besatzer dort bereits ihre Positionen verlassen, teilte der ukrainische Generalstab mit. Eine unabhängige Überprüfung dieser Angaben war bislang nicht möglich. Von russischer Seite gab es zunächst keine Reaktion.
Kreml bekräftigt Ziele des Krieges gegen die Ukraine
Ungeachtet der jüngsten Misserfolge in der Ostukraine will Russland seinen Krieg gegen das Nachbarland weiterführen. "Die militärische Spezialoperation dauert an und wird andauern, bis die ursprünglich gesetzten Ziele erreicht worden sind", sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow vor Journalisten. Es gebe derzeit "keine Aussicht auf Verhandlungen" zwischen Moskau und Kiew, fügte er hinzu.
Peskow antwortete damit nur ausweichend auf die Frage von Journalisten, ob Russlands Militärführung noch immer das Vertrauen von Kremlchef Wladimir Putin genieße. Auf die Frage, wie Putin auf die Nachricht vom Abzug der eigenen Truppen aus dem Gebiet Charkiw reagiert habe, sagte Peskow lediglich, Russlands Präsident werde über alle militärischen Entwicklungen informiert. Zu Moskaus Kriegszielen zählt etwa die vollständige Eroberung der ostukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk.
Am Wochenende aber hatte Russlands Armee eine ihrer schwersten Niederlagen seit dem Einmarsch ins Nachbarland vor mehr als einem halben Jahr einstecken müssen: Unter dem Druck ukrainischer Gegenoffensiven wurden Truppen weitgehend aus dem Gebiet Charkiw im Osten abgezogen. Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte derweil mit, die Streitkräfte würden Gebiete in der Region Charkiw angreifen, die von den ukrainischen Truppen zurückerobert worden waren. In den Städten Kupjansk und Isjum und Umgebung seien "Kämpfer und Ausrüstung der ukrainischen Streitkräfte gezielt" aus der Luft, mit Raketen und Artillerie attackiert worden.
Strom- und Wasserversorgung teils wieder hergestellt
Nach massiven Stromausfällen und Problemen bei der Wasserversorgung konnte in der Region Charkiw nach Angaben von Gouverneur Oleh Sinegubow bis zum Morgen 80 Prozent der Versorgung wiederhergestellt werden. Die Region ist eine derjenigen in der Ostukraine, die am Sonntagabend von großflächigen Ausfällen betroffen war. Sinegubow hatte zuvor erklärt, russische Angriffe auf "wichtige Infrastruktur" hätten die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen.
Präsident Selenskyj warf den russischen Truppen auf Twitter vor, keine militärischen Anlagen als Ziel auszuwählen, sondern sie wollten die Menschen ohne Strom und Heizung zurücklassen.
Auch Vertreter der ukrainischen Behörden in den Regionen Donezk und Sumy veröffentlichten in Onlinenetzwerken Mitteilungen über Stromausfälle und Probleme bei der Wasserversorgung. Der Gouverneur der Region Dnipropetrowsk, Valentin Reznichenko, warf den russischen Truppen vor, "Energie-Infrastruktur" angegriffen zu haben, um sich für ihre "Niederlage auf dem Schlachtfeld" zu rächen. Sein Amtskollege in der Region Sumy, Dmytro Schywyzkii, berichtete, mindestens 135 Städte und Dörfer seien von Stromausfällen betroffen.
Nach Angaben des Bürgermeisters war die Strom- und Wasserversorgung von Charkiw am Montagmittag erneut unterbrochen. "Die Lage der letzten Nacht wiederholt sich", teilte Ihor Terechow mit.
IAEA-Chef will Waffenruhe statt Entmilitarisierung um Saporischschja
Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) strebt eine einfach umsetzbare Sicherheitszone um das umkämpfte ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja ein, das von russischen Truppen kontrolliert wird. Russland und die Ukraine müssten sich darauf einigen, das Kraftwerk und die Umgebung nicht mehr zu beschießen, sagte IAEA-Chef Rafael Grossi in Wien. Er bestätigte, dass er keinen Abzug von Waffen und Truppen vorschlage. "Wir müssen es einfach halten", sagte er. Grossi hatte in einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats vorige Woche eine Sicherheitszone gefordert, ohne seinen Plan näher zu erklären.
Der IAEA-Generaldirektor berichtete am Montag, dass er sowohl mit Kiew als auch mit Moskau in Kontakt stehe. Zu den offenen Fragen gehören demnach der Radius der Zone und die Tätigkeiten der in Saporischschja stationierten IAEA-Experten. Laut Grossi könnten diese Experten über mögliche Verletzungen der Waffenruhe berichten.
Atomkraftwerk Saporischschja vollständig heruntergefahren
Der russische Präsident Wladimir Putin und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron haben Angaben aus Moskau zufolge zur kritischen Lage am von Russland besetzten ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja telefoniert. Putin habe ein internationales Einwirken auf die Ukraine gefordert, damit diese ihre Angriffe auf die Anlage einstelle, hieß es in einer Kreml-Mitteilung. Die Ukraine wiederum wirft den russischen Truppen immer wieder vor, dass seit März unter ihrer Kontrolle stehende AKW selbst zu beschießen.
Kurz zuvor war bekannt geworden, dass das größte Atomkraftwerk Europas vollständig heruntergefahren werden musste. Laut der ukrainischen Atombehörde Enerhoatom waren aufgrund von Beschuss zwischenzeitlich alle Leitungen zum Stromnetz unterbrochen. Auch die russische Seite bestätigte die Abschaltung des Kraftwerks, auf dessen Gelände sich zur Beobachtung der Lage weiter auch zwei Mitarbeiter der Internationalen Atombehörde IAEA aufhalten.
Visa-Beschränkungen für Russen in Kraft
Für russische Bürger wird es schwieriger, in Staaten des Schengen-Raums zu reisen. Das zwischen der Europäischen Union und Russland geschlossene Abkommen zur Erleichterung der Visa-Vergabe ist nach einem Beschluss der EU-Staaten von vergangener Woche von diesem Montag an für russische Staatsbürger komplett ausgesetzt.
Russen müssen für das übliche 90-Tage-Visum ab sofort deutlich mehr bezahlen. Zudem wird der bürokratische Aufwand für die Antragssteller größer, die Bearbeitungszeiten werden länger und die Ausstellung von Erlaubnissen für die mehrfache Einreise wird eingeschränkt. Damit soll die Zahl der neuen Visa für Russen deutlich sinken. Zum Schengen-Raum gehören 22 EU-Staaten und vier weitere europäische Länder.
Atomkraftgegner protestieren gegen erwartete Uran-Lieferung aus Russland
Vor der Brennelementefabrik in Lingen im Emsland hat eine Gruppe von Atomkraftgegnern gegen einen erwarteten Uran-Transport aus Russland demonstriert. Die Vertreter von Umweltgruppen forderten den sofortigen Stopp der Atomgeschäfte mit Russland. Das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) hatte aktuelle Transporte von Russland in die Brennelementefabrik im niedersächsischen Lingen am Donnerstag bestätigt. Grundlage seien Genehmigungen aus dem Jahr 2021, sagte ein BASE-Sprecher.
Nach Angaben von Aktivisten hat das russische Schiff mit angereichertem Uranhexafluorid doch nicht am Sonntag den Hafen von Rotterdam angelaufen, es sei nun nach Frankreich unterwegs. Daher werde zumindest an diesem Montag kein Uran-Transport aus Russland in Lingen erwartet.
Unter den rund 15 Demonstranten war auch der russische Umweltschützer Wladimir Sliwjak, Träger des Alternativen Nobelpreises. Er forderte, die Kooperation mit der russischen Führung zu stoppen und Rosatom zu sanktionieren. "Rosatom hat eine aktive Aufgabe im Ukraine-Krieg: die Koordination der russischen Truppen bei der Besetzung von Atomkraftwerken - ganz konkret in Saporischschja". In Lingen werden Brennelemente für die nukleare Stromerzeugung in Europa hergestellt. Die Fabrik gehört dem französischen Unternehmen Framatome.
Mehrheit der Deutschen zu Verzicht wegen Russland-Sanktionen bereit
Eine Mehrheit der Deutschen ist weiterhin zu Einschränkungen im Alltag bereit, um die Sanktionen gegen Russland infolge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine mitzutragen. Laut einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag der "Augsburger Allgemeinen" sind 53 Prozent der Bundesbürger grundsätzlich willens, zu diesem Zweck auf etwas zu verzichten. Hingegen lehnen demnach 42 Prozent der Befragten Einschränkungen ab; die übrigen Befragten sind unentschlossen.
Unterschiede gibt es allerdings bei Anhängern der verschiedenen Parteien: So zeigen sich der Umfrage zufolge vor allem die Wählerinnen und Wähler von Grünen und SPD verzichtbereit. Im Lager der Grünen sind es sogar mehr als neun von zehn Befragten. Anhänger der Union sind in der Frage eher gespalten. Unter dem Sympathisanten von FDP, Linke und AfD spricht sich jeweils eine Mehrheit gegen den Verzicht für Sanktionen aus.
An der Befragung nahmen im Zeitraum vom 7. bis 9. September 2022 rund 5000 Menschen teil.
kle/nob/ust/as/qu/AR (dpa, rtr, afp)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.