Aktuell: Lambrecht will UN-Untersuchung
18. September 2022Das Wichtigste in Kürze:
- Lambrecht fordert UN-Zugang nach Isjum
- Selenskyj konkretisiert Foltervorwürfe an Russland
- Russische Angriffe auf ukrainische Versorgungseinrichtungen
- Biden warnt Putin vor Einsatz von Chemie- und Atomwaffen
- Atomkraftwerk Saporischschja ist wieder am ukrainischen Stromnetz
Nach dem Fund Hunderter Leichen in der ukrainischen Stadt Isjum hat Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht eine Prüfung möglicher Kriegsverbrechen gefordert. "Diese furchtbaren Verbrechen müssen unbedingt aufgeklärt werden - am besten von den Vereinten Nationen", sagte die SPD-Politikerin den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Die UN sollten schnellstmöglich Zugang bekommen, damit Beweise gesichert werden könnten.
"Die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen müssen vor Gericht gestellt werden", erklärte Lambrecht. In Isjum im nun befreiten ostukrainischen Gebiet Charkiw waren mehr als 440 Gräber mit Leichen gefunden worden. Die Menschen sollen ersten Erkenntnissen zufolge ums Leben gekommen sein, als Russland die Stadt Ende März heftig beschoss.
Tschechien verlangt Kriegsverbrecher-Tribunal zu Ukraine
Nach der Entdeckung hunderter Gräber in zurückeroberten Gebieten der Ukraine hat die tschechische EU-Ratspräsidentschaft die Einrichtung eines internationalen Kriegsverbrecher-Tribunals gefordert. "Im 21. Jahrhundert sind solche Angriffe auf die Zivilbevölkerung undenkbar und abscheulich", betonte der tschechische Außenminister Jan Lipavsky. Auf Twitter schrieb er: "Wir dürfen nicht darüber hinwegsehen. Wir setzen uns für die Bestrafung aller Kriegsverbrecher ein." Lipavsky rief zur "raschen Einsetzung eines speziellen internationalen Tribunals auf".
"Folter war weit verbreitete Praxis"
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat erneut von Folter in der befreiten Region Charkiw gesprochen und konkrete Beispiele genannt. "Folter war eine weit verbreitete Praxis in dem besetzten Gebiet", sagte Selenskyj in einer vom Präsidentenamt in Kiew verbreiteten Videobotschaft. Es seien mehr als zehn Folterkammern in verschiedenen Städten gefunden worden.
Nach Darstellung des Präsidenten sollen Menschen mit Drähten und Stromschlägen gequält worden sein. So sei etwa auf einem Bahnhof im Ort Kosatscha Lopan ein Folterraum mit elektrischen Folterwerkzeugen entdeckt worden. Auch bei den in einem Waldstück nahe der Stadt Isjum gefundenen Leichen seien neue Beweise für Folter sichergestellt worden.
Die vor einer Woche geflohenen Besatzer bezeichnete Selenskyj als "Raschisten" und sagte, so hätten sich auch die "Nazis" verhalten. "Raschismus" vereint die Wörter Russland und Faschismus und wird von den Ukrainern als Begriff für "russischer Faschismus" benutzt.
Selenskyj kündigte an, man werde "die Identitäten aller ermitteln, die gefoltert und misshandelt haben, die diese Grausamkeiten von Russland hier auf ukrainisches Gebiet gebracht haben". Ukrainische Behörden veröffentlichten unterdessen Fotos, die Folterkammern und -geräte zeigen sollen.
Russische Angriffe auf Versorgungseinrichtungen
Bei Angriffen Russlands im Osten und Süden des Landes hat es nach ukrainischen Angaben mehrere Tote sowie Schäden an Gebäuden und Versorgungseinrichtungen gegeben. In Donezk seien im Verlauf des vergangenen Tages fünf Zivilisten getötet worden, teilt der Gouverneur der ostukrainischen Region mit. In Nikopol im Süden des Landes wurden laut den Regionalbehörden Gas- und Stromleitungen sowie mehrere Dutzend Häuser, darunter mehrstöckige Gebäude, beschädigt.
Nach Einschätzung britischer Militärgeheimdienste nimmt Russland seit rund einer Woche verstärkt zivile Infrastruktur in der Ukraine ins Visier. Ziel sei die Demoralisierung von Regierung und Bevölkerung, erklärt das britische Verteidigungsministerium in seiner täglichen Lageeinschätzung auf Twitter. Angesichts der Rückschläge an der Front verlege sich Russland verstärkt auf Einsätze, von denen es sich selbst keinen unmittelbaren militärischen Nutzen verspreche. Das Ministerium verwies auf Angriffe auf Anlagen für die Strom- und Trinkwasserversorgung.
Biden warnt Putin vor Einsatz von Chemie- und Atomwaffen
US-Präsident Joe Biden hat den russischen Präsidenten Wladimir Putin davor gewarnt, nach den Rückschlägen in der Ukraine zu taktischen Atom- oder Chemiewaffen zu greifen. "Machen Sie das nicht, machen Sie das nicht, machen Sie das nicht. Es würde das Gesicht des Krieges verändern, wie nichts anderes seit dem Zweiten Weltkrieg", sagte Biden dem Fernsehsender CBS. Russland würde sich damit noch mehr zum Außenseiter machen als jemals zuvor, so Biden. Der US-Präsident kündigte in diesem Fall eine harte Reaktion Washingtons an. Taktische Atomwaffen haben eine geringere Reichweite und eine deutlich geringere Sprengkraft als strategische Kernwaffen.
Seit der Invasion der Ukraine hat die russische Führung wiederholt mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. In einer Rede zum Einmarsch in die Ukraine im Februar hatte Putin Andeutungen gemacht, dass er Atomwaffen einsetzen könnte, wenn der Westen in die "Militärische Spezialoperation", wie der Krieg in der Ukraine in Russland offiziell genannt wird, eingreife. Infolge der derzeitigen Entwicklungen in der Ukraine setzen Nationalisten in Russland Putin unter Druck, wieder die Initiative zu ergreifen.
Am Freitag sagte der russische Präsident, dass Moskau die Gangart ändere, wenn seine Truppen weiter unter Druck gesetzt würden. Die Ukraine hat bei einer Gegenoffensive gegen die russischen Truppen in den vergangenen Tagen erhebliche Erfolge im Osten des Landes erzielt. Putin erklärte hingegen, der Krieg gegen die Ukraine laufe nach Plan. "Die russische Armee nimmt immer neue Gebiete ein", versicherte er. "Wir haben es nicht eilig."
Atomkraftwerk Saporischschja ist wieder am ukrainischen Stromnetz
Das Atomkraftwerk Saporischschja ist nach zweiwöchiger Unterbrechung wieder direkt an das ukrainische Stromnetz angeschlossen. Wie die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien mitteilte, wurde eine Hauptstromleitung wiederhergestellt. Während der Unterbrechung lief die externe Stromversorgung über Notfall-Leitungen, die aber wegen der Kämpfe im Umfeld der russisch besetzten Anlage auch zeitweise ausfielen. Um den riskanten Einsatz von Notstromaggregaten im Kraftwerk oder gar einen Atomunfall zu vermeiden, wurde voriges Wochenende der letzte der sechs Reaktoren, der noch in Betrieb war, heruntergefahren. Die Brennstäbe der Reaktoren müssen jedoch auch im abgeschalteten Zustand weiter gekühlt werden.
IAEA-Chef Rafael Grossi bezeichnete die allgemeine Lage in Saporischschja trotz der verbesserten Stromversorgung als instabil. Das Kraftwerk sei zwar in den vergangenen Tagen nicht mehr beschossen worden, doch es gebe weiterhin Gefechte im Gebiet um die Anlage. Grossi bezieht sich in seinen Berichten über das Kraftwerk unter anderem auf Angaben von zwei IAEA-Experten, die dort als Beobachter stationiert sind.
Freude über geplanten Haubitzen-Export
Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, hat die Entscheidung der Bundesregierung begrüßt, die Lieferung von 18 Panzerhaubitzen an sein Land zu genehmigen. "Damit wird ein großer Beitrag geleistet, um die Schlagkraft der Armee zu stärken", schrieb Melnyk auf Twitter. Er war Mitte Oktober aus dem Amt geschieden.
Zuvor hatte ein Regierungssprecher bestätigt, dass die Genehmigung zur Ausfuhr von 18 Haubitzen vom Typ RCH-155 erteilt worden sei. Die Lieferung bedürfe aber noch der Zustimmung durch den Deutschen Bundestag. Entsprechende Anträge seien in Bearbeitung.
Nach Informationen der Zeitung "Welt am Sonntag" handelt es sich um Haubitzen, die Kiew beim Rüstungskonzern Krauss-Maffei Wegmann (KMW) in Auftrag gegeben hat. Ihr Gesamtwert beläuft sich demnach auf 216 Millionen Euro.
Die ersten Exemplare der RCH-155 wären allerdings frühestens nach 30 Monaten zur Auslieferung bereit, berichtet das Blatt weiter. Deutschland hat bereits zehn Panzerhaubitzen 2000 an die Ukraine geliefert.
Schüsse auf Gesandten des Papstes
Auf seinem Weg durch das ukrainische Kriegsgebiet ist der Sondergesandte des Papstes beschossen worden. Er und seine Mitreisenden seien aber unverletzt geblieben, berichtete der polnische Kardinal Konrad Krajewski im Gespräch mit dem Portal "Vatican News".
Der Leiter der Vatikanbehörde für Nothilfe berichtete, er sei in der Nähe der Stadt Saporischschja zusammen mit einem katholischen und einem evangelischen Bischof sowie einem ukrainischen Soldaten unterwegs gewesen. Mit einem Kleinbus hätten sie Vorräte ins Frontgebiet gebracht - in ein "Niemandsland", das wegen des schweren Beschusses normalerweise nur noch Soldaten beträten.
Beim Ausladen von Hilfsgütern für die einheimische Bevölkerung seien sie unter leichten Beschuss geraten und hätten sich umgehend in Sicherheit gebracht, so Krajewski weiter. Nach den Schüssen hätten sie aber ihre Tour fortsetzen und den Rest der Hilfsgüter verteilen können.
NATO-Militär: Westliche Hilfe macht den Unterschied
Der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Admiral Rob Bauer, sieht in der westlichen Unterstützung der Ukraine einen entscheidenden Faktor für die jüngsten militärischen Erfolge Kiews. "Die Munition, Ausrüstung und Ausbildung, die die Verbündeten und andere Nationen liefern, machen auf dem Schlachtfeld einen echten Unterschied", sagte der Niederländer in der estnischen Hauptstadt Tallinn, wo sich das Gremium traf, dem die Generalstabschefs der 30 Mitgliedsstaaten angehören.
Nach Bauers Angaben haben die Generalstabschefs bei ihrer zweitägigen Konferenz darüber beraten, wie die Unterstützung der Verbündeten für die Ukraine aufrechterhalten und ausgebaut werden kann. Die NATO werde die Ukraine so lange unterstützen, wie es nötig sei. "Der Winter kommt, aber die Unterstützung soll unerschütterlich bleiben", betonte der Top-Militär.
Der NATO-Militärausschuss berät den Nordatlantikrat, das höchste politische Gremium der Allianz. Als geladene Gäste nahmen erstmals auch Verteidigungschefs von Finnland und Schweden an der Konferenz teil. Die beiden Länder hatten nach der russischen Invasion der Ukraine die Aufnahme in die NATO beantragt.
Ukraine doch nicht Gastgeber der EuroBasket 2025
Neben Lettland, Zypern und Finnland wird Polen Gastgeber der Basketball-Europameisterschaft 2025 sein. Das teilte der Weltverband FIBA mit.
Noch Ende März hatte die FIBA den vierten Austragungsort offengelassen, um diesen der Ukraine anzubieten. In einem "Akt der Solidarität" und trotz des russischen Angriffskrieges würden exklusive Gespräche fortgesetzt, hieß es damals. Letztlich entschied sich der Weltverband nun aber für Polen als Alternative.
gri/wa/kle/nob (afp, dpa, kna)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.