Aktuell: Bundeswehr soll wieder Kernaufgabe übernehmen
16. September 2022
Das Wichtigste in Kürze:
- Scholz kündigt Rückbesinnung der Bundeswehr auf Verteidigungsauftrag an
- Generalstaatsanwalt von Luhansk getötet
- Rund 450 Gräber bei ukrainischer Stadt Isjum gefunden
- Bundesregierung stellt Rosneft Deutschland unter Treuhandverwaltung
- USA schnüren neues Waffenpaket
Auf der Bundeswehr-Tagung in Berlin hat Bundeskanzler Olaf Scholz die Landes- und Bündnisverteidigung als Hauptauftrag der Bundeswehr bezeichnet. "Alle anderen Aufgaben" hätten sich dem unterzuordnen, betonte Scholz in seiner Rede. "Lange Zeit hat unser Land eine echte Priorisierung der Aufgaben der Bundeswehr vermieden", kritisierte Scholz. "Brunnen bohren, humanitäre Hilfe absichern, Fluten eindämmen, in Pandemiezeiten beim Impfen helfen - all das kann eine gute Armee wie die Bundeswehr", sagte der Kanzler. "Darin besteht aber nicht ihr Kernauftrag. Der Kernauftrag der Bundeswehr ist die Verteidigung der Freiheit in Europa."
Die Bundeswehr müsse "zur am besten ausgestatteten Streitkraft in Europa" werden. Dies sei angesichts der Bedrohung durch das von Wladimir Putin beherrschte Russland notwendig. "Von Putins Russland geht - darauf stellen wir uns im Rahmen der NATO ein - derzeit die größte Bedrohung für unser Bündnis aus." Mit dem russischen Krieg in der Ukraine mache "eine hochgerüstete Nuklearmacht den Versuch, Grenzen in Europa mit Gewalt neu zu ziehen", sagte Scholz. "Käme Russland damit durch - unser Frieden in Europa wäre auf lange Zeit dahin."
Zugleich sprach sich der Kanzler für eine Überprüfung der strengen Regeln für die Ausfuhr von gemeinsam in Europa entwickelten Waffen aus. Die deutschen Regeln behindern nach Ansicht von Kritikern die europäische Rüstungszusammenarbeit, weil die gemeinsam entwickelten Waffen bei Exportvorhaben den strengen deutschen Vorschriften unterworfen werden. In ihrem Koalitionsvertrag hatten sich die Ampel-Parteien auf eine restriktive Linie bei den Rüstungsexporten verständigt. Dagegen votierte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht kürzlich für eine mögliche Lockerung der Richtlinien. Sie wurde dafür vom grünen Koalitionspartner kritisiert.
Generalstaatsanwalt von Luhansk getötet
Im von Russland besetzten ostukrainischen Gebiet Luhansk sind örtlichen Angaben zufolge hochrangige Mitglieder der von Moskau gelenkten Separatisten bei einem Anschlag getötet worden. "Heute starben im Ergebnis eines Terrorakts der Generalstaatsanwalt Sergej Gorenko und seine Stellvertreterin Jekaterina Steglenko", schrieb der Chef der Luhansker Separatisten, Leonid Passetschnik, auf Telegram. Örtliche Medien hatten zuvor von einer Explosion im Gebäude der Staatsanwaltschaft berichtet.
Passetschnik machte die Regierung in Kiew für den Anschlag verantwortlich. Der externe Berater des ukrainischen Präsidentenbürochefs, Mychajlo Podoljak, wies hingegen eine Beteiligung zurück. Die "Liquidierung" sei als Auseinandersetzung innerhalb der örtlichen Kriminalität anzusehen, schrieb Podoljak auf Twitter.
Mit russischer Unterstützung hatten Separatisten bereits 2014 Teile von Luhansk sowie des Nachbargebiets Donezk von der Ukraine abgespalten. Anfang dieses Jahres, also noch vor dem Einmarsch in weitere Teile der Ukraine, erkannte Russland beide Regionen unter internationalem Protest als unabhängige "Volksrepubliken" an.
Ein weiteres Attentat wird aus der ebenfalls von Russland besetzten südukrainischen Hafenstadt Berdjansk gemeldet. Russischen Angaben zufolge wurden dort der Vizechef der Besatzungsverwaltung, Oleg Boiko, und dessen Frau Ljudmila getötet.
Rund 450 Gräber bei ukrainischer Stadt Isjum gefunden
In der Nähe der von ukrainischen Truppen zurückeroberten Stadt Isjum im Osten des Landes sind nach ukrainischen Angaben rund 450 Gräber entdeckt worden. Am Donnerstagabend hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj von einem "Massengrab" in Isjum gesprochen, ohne Einzelheiten zu nennen. Bei dem Fund handelt es sich nach Aussage des ukrainischen Vermisstenbeauftragten jedoch nicht um ein Massengrab, sondern um viele Einzelgräber. "Ich möchte das nicht Butscha nennen - hier wurden die Menschen, sagen wir mal, zivilisierter beigesetzt", sagte Oleh Kotenko dem TV-Sender Nastojaschtschee Wremja.
Ende März waren in dem Kiewer Vorort Butscha nach dem Abzug russischer Truppen Hunderte getötete Zivilisten teils mit Folterspuren gefunden worden. Butscha gilt seitdem als Symbol für schwerste Kriegsverbrechen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Dagegen sei ein großer Teil der Menschen in Isjum wohl gestorben, als Russlands Truppen die Stadt im Zuge der Eroberung Ende März heftig beschossen hätten, sagte Kotenko. Die Bestattungsdienste hätten zum Teil nicht gewusst, wer die vielen Toten seien. Deshalb stünden auf einigen Kreuzen nur Nummern.
Der Internetsender Hromadske meldet, in einem Grab lägen bis zu 25 getötete ukrainische Soldaten. Ein Untersuchungsteam des UN-Menschenrechtsbüros in Genf will Isjum so schnell wie möglich aufsuchen, wie eine Sprecherin in Genf sagte. Der Fund sei schockierend und die Todesursache jedes einzelnen Verstorbenen müsse untersucht werden.
Von der Leyen: Putin muss für Taten einstehen
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hält es für eine realistische Möglichkeit, dass sich der russische Präsident vor dem Internationalen Strafgerichtshof für die Kriegsverbrechen in der Ukraine verantworten muss. Von der Leyen sagte der "Bild"-Zeitung: "Dass Putin diesen Krieg verlieren muss und für seine Taten einstehen muss, das ist mir wichtig."
Es stehe außer Zweifel, dass in der Ukraine schwerste Kriegsverbrechen begangen würden: "Deshalb unterstützen wir, dass die Beweise gesammelt werden, dass vor dem Internationalen Strafgerichtshof die Verfahren möglich sind. Das ist die Grundlage unserer gemeinsamen internationalen Rechtsordnung, dass wir dann auch diese Verbrechen ahnden. Und zum Schluss ist Putin dafür verantwortlich." Auf die Frage, ob sie glaube, dass es jemals zu einem Prozess gegen Putin kommen werde, sagt die EU-Kommissionspräsidentin: "Ich halte das für möglich."
Zum Abschluss ihres Besuches in der Ukraine am Donnerstag hatte die EU-Kommissionspräsidentin betont, es sei wichtig, trotz der steigenden Kosten das Land weiter zu unterstützen. "Die Hilfe für die Ukraine ist teuer, aber unsere Freiheit, die internationale Friedensordnung und die Demokratie sind unbezahlbar", sagte von der Leyen als Antwort auf die Frage nach den möglichen Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise in Europa auf die Unterstützung der Ukraine. Zudem hätten die Sanktionen der EU gegen Russland tiefe und sichtbare Auswirkungen. Von der Leyen ist seit dem russischen Angriffskrieg insgesamt drei Mal in die Ukraine gereist.
Russland liefert noch mehr Erdgas nach China
Russland will das Erdgas, das es bisher nach Europa verkauft hat, künftig nach China leiten. Energieminister Alexander Nowak sagte im Fernsehsender Rossija-1, die geplante Pipeline Kraft Sibiriens 2 werde die Ostseepipeline Nord Stream 2 ersetzen. Am Rande des Gipfeltreffens der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Usbekistan teilte Nowak mit, Russland werde 50 Milliarden Kubikmeter Gas jährlich an China liefern. Die Verträge würden in Kürze unterzeichnet.
Ein solches Liefervolumen entspricht fast der maximalen Kapazität der Pipeline Nord Stream 1, die 55 Milliarden Kubikmeter transportieren kann. Durch die Leitung fließt seit September kein Gas mehr nach Europa. Russland verweist auf technische Probleme. Der Westen hält dies für vorgeschoben. Nord Stream 2 ist wegen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine nicht in Betrieb genommen worden. Die Bauarbeiten für Kraft Sibiriens 2 sollten 2024 beginnen, fügte Nowak hinzu. Durch die Pipeline Kraft Sibiriens 1 fließt seit 2019 Gas von Jakutien nach China. Der Minister kündigte an, die Lieferungen durch diese Pipeline würden erhöht, um 20 Milliarden Kubikmeter pro Jahr zu erreichen.
Bundesregierung stellt Rosneft Deutschland unter Treuhandverwaltung
Die Bundesregierung hat die deutschen Töchter des staatlichen russischen Ölkonzerns Rosneft, Rosneft Deutschland GmbH und RN Refining & Marketing GmbH, unter Treuhandverwaltung der Bundesnetzagentur gestellt. Dies gelte auch für den jeweiligen Anteil an den drei Raffinerien in Schwedt, Karlsruhe und Vohburg, teilte das Bundeswirtschaftsministerium mit und verwies auf eine "drohende Gefährdung der Energieversorgungssicherheit". Die Anordnung gilt zunächst für sechs Monate.
Hintergrund ist das Öl-Embargo gegen Russland wegen des Ukraine-Kriegs, das am 1. Januar 2023 greift. Bisher wird die Raffinerie in Schwedt über die Druschba-Pipeline mit russischem Erdöl beliefert. Rosneft Deutschland vereint laut Ministerium insgesamt rund zwölf Prozent der Kapazitäten der deutschen Erdölverarbeitung auf sich und ist damit hierzulande eines der größten erdölverarbeitenden Unternehmen in Deutschland.
EU-Parlamentschefin fordert stärkere deutsche Führungsrolle
EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola erwartet von der Bundesregierung eine stärkere Führungsrolle bei der Unterstützung der Ukraine. "Ich fordere von Deutschland, Führungsstärke zu zeigen", sagte Metsola der "Augsburger Allgemeinen". "Ich möchte, dass die Regierungschefs der europäischen Länder nicht nur über Demokratie reden, sondern sie auch zeigen", betonte die maltesische Christdemokratin.
Ex-Boxweltmeister Wladimir Klitschko hat an die Bundesregierung appelliert, bei Waffenlieferungen an die Ukraine schnell mehr zu tun. "Nur mit modernen Waffen, mit moderner Technologie, können wir diesen Krieg stoppen und Russland stoppen", sagte der 46-Jährige und Bruder des Kiewer Bürgermeisters Vitali Klitschko in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Deswegen sei es notwendig, dass Leopard-2-Kampfpanzer geliefert würden und auch Schützenpanzer vom Typ Marder. Die Bundesregierung hat gerade weitere Waffenlieferungen zugesagt, aber nicht von Kampfpanzern.
Waffen, Munition und Ausrüstung aus den USA
Das US-Außenministerium kündigte weitere Militärhilfen für Kiew im Umfang von 600 Millionen US-Dollar (rund 600 Millionen Euro) an. Die USA stellen der Ukraine demnach zusätzliche Waffen, Munition und Ausrüstung aus Beständen des US-Verteidigungsministeriums zur Verfügung.
Damit erhöht sich die militärische Unterstützung der USA für die Ukraine seit Beginn der Amtszeit von Präsident Joe Biden dem Ministerium zufolge auf einen Gegenwert von insgesamt 15,8 Milliarden Dollar. Der Großteil der Hilfen wurde seit Kriegsbeginn am 24. Februar gewährt. In den vergangenen Monaten brachten die Amerikaner im großen Stil diverse Hilfspakete für die Ukraine auf den Weg. Ihr Fokus lag dabei zunächst darauf, so schnell wie möglich Waffen und Munition an die Front in der Ukraine zu liefern - oft auch aus Beständen des US-Militärs.
Papst spricht von Recht auf Selbstverteidigung
Papst Franziskus hält Waffenlieferungen an die Ukraine für moralisch vertretbar, wenn diese nur der Selbstverteidigung dienen. Das sagte das Oberhaupt der katholischen Kirche auf dem Rückflug von seiner Kasachstan-Reise nach Rom. Auf eine entsprechende Frage antwortete der Pontifex, es sei aber unmoralisch, Waffen zu liefern "mit der Absicht, noch mehr Krieg zu provozieren, mehr Waffen zu verkaufen oder alte Waffen loszuwerden".
Die Ukraine kämpft seit dem russischen Angriff am 24. Februar gegen die Invasoren. Sich selbst zu verteidigen, sei "nicht nur berechtigt, sondern ein Beweis der Liebe zur Heimat", sagte Franziskus. "Wer etwas verteidigt, der liebt es auch." Der Pontifex hatte als Teilnehmer eines zweitägigen Religionstreffens in der kasachischen Hauptstadt Nur-Sultan die Welt zu größerem Einsatz für den Frieden aufgefordert.
"Seit 70 Jahren reden die Vereinten Nationen vom Frieden und machen viele Dinge. Aber wie viele Kriege toben heute wieder?" Wie schon öfter unterstrich der Papst: "Wir sind in einem Weltkrieg." Franziskus erwähnte dabei auch den zuletzt wieder aufgeflammten Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, in dem es inzwischen eine Feuerpause gibt. Russland ist Schutzmacht Armeniens und eigentlich ein Friedensgarant in dem jahrzehntelangen Konflikt. "Hier ein Garant für Frieden, dort führt man Krieg", sagte Franziskus in Richtung Moskau.
kle/as/haz/bru/jj/gri (dpa, rtr, afp)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen. In einer früheren Version des Artikels hatte es unter Berufung auf einen Reporter der Nachrichtenagentur Reuters geheißen, bei einer Exhumierung in Isjum seien mehrere Leichen mit Stricken um den Hals gefunden worden. Reuters hat diese Meldung inzwischen zurückgezogen.