Ukraine aktuell: Rüstungsindustrie kritisiert Regierung
11. Februar 2023
Das Wichtigste im Überblick:
- Rüstungsindustrie klagt über ausbleibende Aufträge aus Bundeswehr-Sondervermögen
- Baerbock mahnt Bedachtsamkeit in Waffen-Debatte an
- US-Präsident Biden reist übernächste Woche nach Polen
- Beträchtliche Schäden am ukrainischen Energiesystem
- US-Regierung rechnet mit russischem Panzer-Mangel
Angesichts ausbleibender Aufträge aus dem 100 Milliarden Euro umfassenden Sondervermögen für die Bundeswehr werden in der Rüstungsindustrie kritische Stimmen laut. "Bis heute ist der Bestelleingang bei der deutschen Industrie aus dem Sondervermögen verschwindend gering", sagte die Chefin des Panzergetriebe-Herstellers Renk, Susanne Wiegand, der "Augsburger Allgemeinen". "Irgendwann frage ich mich schon: Deutschland, was muss eigentlich noch passieren?" Die Industrie benötige Planungssicherheit. Wiegand ist auch Vorsitzende des Ausschusses für Sicherheit im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI).
Unterdessen könnte die tatsächliche Summe aus dem Sondervermögen, die für die Modernisierung der Bundeswehr zur Verfügung steht, nach Angaben des Verteidigungsministeriums in diesem Jahr weiter schrumpfen. Hintergrund sind die steigenden Zinsen, die der Bund für die Kreditaufnahme aus dem Sondervermögen selbst begleichen muss. Es könne derzeit aber nicht gesagt werden, welche Investitionen dafür konkret wegfallen würden. Bisher ist die "echte“"Investitionssumme den Schätzungen zufolge bereits auf 93 Milliarden Euro gesunken.
Das vollständig kreditfinanzierte Sondervermögen, das der Bundestag im Juni 2022 beschlossen hatte, muss die Zinslasten für die Kredite selbst tragen. Steigen diese, steht also weniger Geld für die konkreten Anschaffungen für die Bundeswehr zur Verfügung. Das Bundesverteidigungsministerium erklärte, dass im Falle eines Zinsanstiegs. "dieser im Rahmen der Fortschreibung des Wirtschaftsplans 2024 berücksichtigt werde". Hinzu kommt jedoch, dass durch die derzeit hohe Inflation die Kaufkraft der verbliebenen Summe weiter sinkt.
Baerbock mahnt Bedachtsamkeit in Waffen-Debatte an
In der Diskussion über weitere Waffenlieferungen an die Ukraine pocht Bundesaußenministerin Annalena Baerbock auf Bedacht. Es handle sich um "schwierige Entscheidungen", sagte die Grünen-Politikerin dem "Tagesspiegel". "Es geht nicht um Spielzeug, sondern um schweres Kriegsmaterial." Daher sei es wichtig, "immer wieder sorgfältig abzuwägen". Zugleich müsse aber auch bedacht werden, "was passiert, wenn die Ukraine sich nicht verteidigen kann".
Angesprochen auf die Diskussion über die mögliche Lieferung von Kampfflugzeugen an das von Russland angegriffene Land sagte Baerbock: "Das ist keine Debatte, die wir führen." Wichtig sei, dass die bisherigen Entscheidungen auch zügig umgesetzt würden. Die Debatte über die Lieferung von Kampfjets an die Ukraine folgte unmittelbar auf den Beschluss mehrerer westlicher Staaten, dem von Russland angegriffenen Land Kampfpanzer zur Verfügung zu stellen.
Polen schließt Alleingang bei Kampfjet-Lieferung aus
Der polnische Präsident Andrzej Duda hat ausgeschlossen, dass sein Land im Alleingang Kampfjets an die Ukraine liefern würde. Eine solche Entscheidung müsse von den NATO-Verbündeten gemeinsam getroffen werden, sagte das Staatsoberhaupt wenige Tage vor einem geplanten London-Besuch dem britischen Sender BBC. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fordert mit Nachdruck die Lieferung von Kampfjets.
Duda betonte, dass eine Überlassung von F-16-Kampfjets von Polen an Kiew eine "sehr ernste Entscheidung" wäre, die nicht leicht zu treffen sei. Die Luftstreitkräfte seines Landes verfügten über weniger als 50 dieser Maschinen aus US-amerikanischer Produktion - das seien schon für Polen nicht genug. Der nationalkonservative Politiker wies zudem auf die logistischen Herausforderungen einer möglichen Lieferung an die Ukraine hin. Unter anderem Polen hatte die NATO-Partner zuletzt dazu gedrängt, nach Kampfpanzern auch die Lieferung von Kampfjets zu bewilligen.
US-Präsident Biden reist übernächste Woche nach Polen
US-Präsident Joe Biden wird vor dem ersten Jahrestag des Kriegsbeginns in der Ukraine nach Polen reisen. Biden werde während seines Besuchs vom 20. bis 22. Februar unter anderem den polnischen Präsidenten Andrzej Duda treffen, sagte die Sprecherin des Weißen Hauses. Außerdem werde er mit weiteren Vertretern osteuropäischer NATO-Staaten zusammenkommen. Geplant ist zudem eine Rede des US-Präsidenten.
Bereits im März vergangenen Jahres, rund einen Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, hatte Biden Polen besucht. Für Aufsehen sorgte der Präsident mit einer Rede am Königsschloss in Warschau, bei der er vom Skript abwich und über den russischen Präsidenten Wladimir Putin sagte: "Dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben." Das Weiße Haus versicherte umgehend, Biden strebe keinen "Regimewechsel" in Moskau an.
Die USA sind der wichtigste Unterstützer der Ukraine im Krieg gegen Russland. Washington hat dem angegriffenen Land seit Kriegsbeginn Waffen und andere Rüstungsgüter im Wert von rund 30 Milliarden Dollar (knapp 28 Milliarden Euro) zugesagt.
Selenskyj zieht positives Fazit seiner Europa-Reise
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat ein positives Fazit seiner Reise nach Westeuropa in dieser Woche gezogen. "London, Paris, Brüssel - überall habe ich in diesen Tagen darüber gesprochen, wie wir unsere Soldaten stärken können", sagte er in seiner täglichen Videobotschaft. "Es gibt sehr wichtige Vereinbarungen, und wir haben gute Signale erhalten." Dies gelte für Raketen mit höherer Reichweite und Panzer. An der erhofften Lieferung von Kampfflugzeugen als nächster Ebene der Zusammenarbeit "müssen wir aber noch arbeiten".
In London habe er gespürt, dass die Briten der Ukraine wirklich den Sieg über die russische Invasion wünschen. Das Treffen mit Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz in Paris sei wichtig gewesen, um Argumente auszutauschen. "Es wird mehr Unterstützung geben", sagte Selenskyj. Seine Besuche beim EU-Gipfel und beim Europäischen Parlament nannte er den "Beginn einer neuen Etappe". Nach einem Besuch in Washington war es für Selenskyj die zweite Reise ins Ausland seit dem russischen Angriff vor fast einem Jahr gewesen.
Beträchtliche Schäden am ukrainischen Energiesystem
Die jüngsten russischen Raketenangriffe haben beträchtliche Schäden am Energiesystem der Ukraine angerichtet. Mehrere Wärme- und Wasserkraftwerke seien getroffen worden, heißt es von den Versorgungsunternehmen. Ministerpräsident Denys Schmyhal betonte: "Die große Mehrheit der Ukrainer hat weiter Heizung, Wasser und Strom."
Die Kernkraftwerke Riwne und Südukraine mussten aber wegen der Instabilität im Netz ihre Produktion drosseln, wie die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien mitteilte. Im AKW Chmelnyzkyj wurde ein Reaktorblock abgeschaltet. Die russische Armee schoss am Freitag nach Kiewer Zählung etwa 100 Raketen und Marschflugkörper sowie zahlreiche Drohnen auf die Ukraine ab. Russland erklärte anschließend, Schienenwege für den Transport westlicher Waffen, Munition und Reserven in die Kampfzone blockiert zu haben. Das Verteidigungsministerium in Moskau machte am Samstag keine Angaben dazu, wo genau der Bahntransport blockiert worden sei. Allerdings hieß es im täglichen Militärbulletin, dass bei dem Angriff am Freitag alle Ziele erreicht worden seien. Überprüfbar waren die Angaben nicht.
US-Regierung: Russland hat die Hälfte seiner Panzer verloren
Die russische Armee hat bei ihrem Angriffskrieg gegen die Ukraine nach Schätzungen des US-Verteidigungsministeriums einen erheblichen Teil ihrer Kampfpanzer verloren. "Vermutlich die Hälfte des Hauptbestands an Panzern" der russischen Armee sei "von der Ukraine zerstört oder beschlagnahmt" worden, sagte Celeste Wallander, Staatssekretärin für Internationale Sicherheitsfragen im US-Verteidigungsministerium. Genaue Zahlen nannte die Expertin nicht.
Die Ukraine soll in den kommenden Wochen und Monaten vom Westen erheblich aufgerüstet werden. Großbritannien hat Kiew die Lieferung von Challenger-2-Kampfpanzern für März zugesagt. Deutschland will in einer Koalition mit anderen Staaten bis April ein Bataillon an Leopard-2-Panzern in die Ukraine liefern. Die USA haben ebenfalls ein Bataillon aus 31 Kampfpanzern vom Typ Abrams zugesagt. Ihre Lieferung dauert jedoch aller Voraussicht nach wesentlich länger.
Wagner-Chef rechnet mit langen Kämpfen
Der russische Söldner-Chef Jewgeni Prigoschin erwartet nach eigenen Angaben noch jahrelange zähe Kämpfe in der Ukraine. Die von Russland geplante Eroberung der Regionen Donezk und Luhansk werde mindestens anderthalb Jahre in Anspruch nehmen, sagte der Chef der Wagner-Gruppe in einem bereits am Freitag veröffentlichten Video. Wenn ein Vordringen weiter nach Westen bis zum Fluss Dnipro gewünscht sei, so werde dies etwa drei Jahre in Anspruch nehmen, sagte der Militärunternehmer in einem von einem russischen Militärblogger veröffentlichten Interview. Prigoschin gab damit einen seltenen Einblick in den auf russischer Seite erwarteten Zeithorizont des Krieges
Moody's sieht Ukraine nahe am Zahlungsausfall
Die Ratingagentur Moody's sieht die Ukraine kurz vor einem Zahlungsausfall. Die Bonitätswächter senkten die Kreditwürdigkeit des Landes auf die Stufe "Ca" von bisher "Caa3" und verwiesen zur Begründung auf lang anhaltende Herausforderungen für die Ukraine infolge des von Russland geführten Angriffskriegs. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Ukraine sei im vergangenen Jahr um rund 30 Prozent eingebrochen. Eine weitere Herabstufung droht der Ukraine allerdings vorerst nicht: Der Ausblick wurde auf "stabil" von zuvor "negativ" angehoben.
ww/uh/sti/jj/rb/wa (AFP, AP, dpa, KNA, epd, Reuters, DW)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.