Aktuell: Putin bereit zu Getreideexport nach Afrika?
3. Juni 2022
Das Wichtigste in Kürze:
- Ringen um Ausfuhr von ukrainischem Getreide
- Parlamentspräsident Stefantschuk ist Gast im Kanzleramt
- Hunderte Zivilisten sitzen in Bunker unter Chemiefabrik fest
- Ex-Bürgermeister on Mariupol wirft Russland Geiselnahme vor
- Sechstes Sanktionspaket gegen Russland beschlossen
Russlands Präsident Wladimir Putin ist nach Angaben der Afrikanischen Union bereit, den Export von Getreide aus der Ukraine nach Afrika zu ermöglichen. Dies teilte der Präsident der Afrikanischen Union, Macky Sall, nach einem Treffen mit Putin in Sotschi auf Twitter mit. Russland sei weiterhin bereit, den Export von Weizen und Düngemitteln auf den afrikanischen Kontinent zu gewährleisten. Die Beiden hatten sich getroffen, um über eine Freigabe aller Lebensmittelprodukte und eine Aufhebung der russische Ausfuhrblockade von Getreide zu sprechen.
Anschließend wies Putin eine Verantwortung Moskaus für die Getreideknappheit auf dem Weltmarkt zurück. Die Krise habe schon vor dem Krieg in der Ukraine begonnen, sagte er im russischen Fernsehen. Der einfachste Weg, das Problem zu lösen, sei die Ausfuhr über Belarus. "Aber dafür muss man die Sanktionen gegen Belarus aufheben." Dessen Präsident Alexander Lukaschenko schlug dies zuvor ebenfalls vor. Belarus ist als enger Verbündeter Russlands ebenfalls schwer von den westlichen Sanktionen betroffen.
In ukrainischen Häfen lagern derzeit dutzende Millionen Tonnen Getreide, die wegen des Kriegs nicht ausgeführt werden können. Der Ausfall ist gerade für Afrika schmerzhaft. Auf dem Kontinent wird wegen der gestiegenen Lebensmittelpreise eine Hungerkatastrophe befürchtet.
UN vorsichtig optimistisch zu Verhandlungen über Getreideexporte
Auch die Vereinten Nationen haben sich eingeschaltet und verhandeln mit Russland, um ukrainische Getreideexporte zu ermöglichen. Der UN-Koordinator äußerte sich vorsichtig optimistisch zu den Verhandlungen. Die Gespräche seien "sehr, sehr komplex", sagte Amin Awad in Genf. Mit Blick auf Verbündete Russlands in südlichen Ländern zeigte sich Awad aber "optimistisch", dass "etwas getan werden kann", um einen "Durchbruch" zu erzielen.
Ukrainischer Parlamentspräsident zu Gast im Kanzleramt
100 Tage nach Beginn des Ukraine-Kriegs hat Bundeskanzler Olaf Scholz den ukrainischen
Parlamentspräsidenten Ruslan Stefantschuk in Berlin empfangen. Während des Gesprächs nahm Scholz nach Angaben eines Regierungssprechers eine Einladung von Stefantschuk, in der Rada (Parlament) in Kiew zu sprechen, "freundlich zur Kenntnis". Über die Reisepläne des Kanzlers werde die Öffentlichkeit informiert, wenn diese feststünden, fügte er hinzu.
Am Donnerstag hatte der Parlamentspräsident zum Auftakt seines Besuchs die Lieferung deutscher Leopard- und Marder-Panzer an die Ukraine für den Kampf gegen die russischen Angreifer gefordert.
"Jeden Tag 100 Tote und 500 Verletzte in der Ukraine"
Stefantschuk begrüßte, dass Scholz am Mittwoch im Bundestag die Lieferung weiterer schwerer Waffen in die Ukraine angekündigt hat. Diese müssten nun aber auch schnell geliefert werden. Jeden Tag würden in der Ukraine etwa 100 Menschen getötet und etwa 500 verletzt.
Scholz hatte am Mittwoch mitgeteilt, dass die Ukraine von der deutschen Industrie das Flugabwehrsystem Iris-T und ein Ortungsradar für das Aufspüren von Artillerie vom Typ Cobra erhalten soll. Außerdem sollen vier Mehrfachraketenwerfer vom Typ Mars II mit einer Reichweite von bis zu 40 Kilometern aus Beständen der Bundeswehr geliefert werden. Vorher waren bereits zwei weitere schwere Waffensysteme versprochen worden: 50 Gepard-Flugabwehrpanzer und sieben Panzerhaubitzen 2000 - schwere Artilleriegeschütze.
Bas sichert weitere Unterstützung zu
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hat der Ukraine nochmals die Solidarität des Parlaments ausgesprochen. "Der deutsche Bundestag steht fest an der Seite der Ukraine" sagte Bas an den ukrainischen Parlamentspräsidenten Stefantschuk gewandt, der als Gast an der Plenarsitzung teilnahm.
"Wir werden ihr Land weiter humanitär und militärisch, finanziell und diplomatisch unterstützen", versicherte sie zur Eröffnung der Sitzung. "Eine souveräne Ukraine gehört zu einem freiheitlichen demokratischen Europa", betonte die Bundestagspräsidentin. "Ihr Land hat das Recht, selbstbestimmt über seine Zukunft zu entscheiden in Freiheit und Frieden", sagte sie weiter zu Stefantschuk. Bas hob hervor, dass es sich um die erste Auslandsreise des ukrainischen Parlamentspräsidenten handelt.
Botschafter beklagt Deutschlands Zögerlichkeit
Der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, hat nochmals die Zurückhaltung Deutschlands bei der Lieferung schwerer Waffen kritisiert. Die Ukraine begrüße die jüngste Ankündigung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zu neuen Waffenlieferungen, sagte Melnyk im ZDF. "Aber wenn wir ehrlich sind: 100 Tage Krieg - bis heute wurde noch kein einziges schweres Gerät in die Ukraine geliefert aus Deutschland." Die ersten Waffen würden wahrscheinlich erst Ende Juni ankommen, so der Botschafter.
Kreml nach 100 Tagen Krieg: Alle Ziele werden erfüllt
Russland erklärte, man werde die "militärische Spezialoperation" in der Ukraine bis zum Erreichen aller Ziele fortsetzen. Es seien bereits einige Ergebnisse erzielt worden, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow laut der Agentur Interfax. Als ein Ziel gilt die komplette Kontrolle über die ukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk. Nach Einschätzung britischer Geheimdienste kontrolliert Russland mittlerweile mehr als 90 Prozent der Luhansk-Region. Es sei wahrscheinlich, dass Moskau dort in den kommenden zwei Wochen vollständig die Kontrolle übernehme, hieß es in einem Update des britischen Verteidigungsministeriums.
Stoltenberg rechnet mit einem "Abnutzungskrieg"
"Kriege sind von Natur aus unberechenbar", sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg nach einem Treffen mit US-Präsident Joe Biden und dem Nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan im Weißen Haus in Washington. "Deshalb müssen wir uns einfach auf eine lange Strecke einstellen." Der Konflikt sei zu einem "Abnutzungskrieg" geworden, in dem beide Seiten einen hohen Preis auf dem Schlachtfeld zahlten.
Stoltenberg bekräftigte zum 100. Kriegstag in der Ukraine, die NATO wolle nicht in eine direkte Konfrontation mit Russland eintreten. Er betonte aber zugleich, das westliche Militärbündnis habe die "Verantwortung", die Ukraine zu unterstützen.
Chemiefabrik-Bunker als Zufluchtsort
In der schwer umkämpften Stadt Sjewjerodonezk im ostukrainischen Donbass harren hunderte Zivilisten in Bunkern unter einer Chemiefabrik aus. Die ukrainische Verwaltung des fast an Russland verlorenen Gebiets Luhansk berichtete von etwa 800 Menschen in der Fabrik Asot (Stickstoff). "Das sind Einheimische, die gebeten wurden, die Stadt zu verlassen, die sich aber geweigert haben. Auch Kinder sind dort, aber nicht sehr viele", sagte Gouverneur Serhij Hajdaj dem US-Sender CNN.
Mit Blick auf den 100. Tag der russischen Invasion betonte er: "Heute kämpfen und halten wir jeden Meter der Region Luhansk." In den vergangenen hundert Tagen seien durch russische Angriffe in der Region 33 Krankenhäuser, 237 ländliche Gesundheitseinrichtungen, fast 70 Schulen und 50 Kindergärten zerstört worden.
Trotz des Vorrückens russischer Truppen in Sjewjerodonezk wird die Fabrik Asot weiter von ukrainischen Soldaten verteidigt. Ein Sprecher der prorussischen Separatisten von Luhansk warf der Ukraine vor, die Zivilisten in das Werk gelockt zu haben und sie mit Gewalt am Verlassen zu hindern.
Mariupol: Vertriebener Bürgermeister beklagt Geiselnahme
Nach der russischen Einnahme der Hafenstadt Mariupol im Südosten der Ukraine wirft der vertriebene Bürgermeister Wadym Boitschenko der Führung in Moskau die Geiselnahme der dort verbliebenen Menschen vor. Die dort verbliebenen 100.000 Einwohner würden festgehalten und als menschliche Schutzschilde benutzt, klagte Boitschenko in Kiew. Die Einwohner könnten nicht auf von der Ukraine kontrolliertes Gebiet fliehen. Vielmehr wollten die Russen die Zivilisten in der Stadt behalten, um der Ukraine eine Befreiungsoffensive zu erschweren.
Auch sagte Boitschenko, dass Mariupol nicht aufgegeben werde, obwohl die Stadt mit einst 500.000 Einwohnern zu 95 Prozent zerstört sei. Bei den Kämpfen seien mehr als 20.000 Menschen getötet worden: "Das sind doppelt so viele wie im Zweiten Weltkrieg unter der deutschen Besatzung. Es ist das größte Blutvergießen in der Geschichte Mariupols." Diese Angaben sowie sämtliche Berichte aus dem Kriegsgebiet ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
EU-Sanktionspaket beschlossen
Die 27 EU-Staaten haben das sechste Sanktionspaket gegen Russland beschlossen. Das wurde in Brüssel offiziell mitgeteilt. Es sieht unter anderem ein weitgehendes Öl-Embargo gegen Russland vor. Außerdem wird die größte russische Bank, die Sberbank, aus dem Finanzkommunikationsnetzwerk
Swift ausgeschlossen und es werden mehrere russische Nachrichtensender in der EU verboten.
Nach dem formellen Beschluss dürften die Sanktionen noch an diesem Freitag im Amtsblatt der EU
veröffentlicht werden. Dann sind sie in Kraft.
"Neuere Waffen sind effizienter"
Der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj hat den USA und anderen Verbündeten für die jüngsten Zusagen zur Lieferung moderner Waffen gedankt. In einer neuen Videoansprache erwähnte er vor allem die Mehrfachraketenwerfer vom Typ Himars aus den USA. "Diese Waffen werden wirklich dazu beitragen, das Leben unseres Volkes zu retten und unser Land zu schützen", sagte Selenskyj. Eine Hilfe sei auch das neue sechste Sanktionspaket der EU gegen Russland mit einem weitgehenden Öl-Embargo. "Die Welt verzichtet endlich auf russisches Öl."
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"Frieden gibt es nicht umsonst"
Einhundert Tage nach Kriegsbeginn hat Bundesaußenministerin Annalena Baerbock der Ukraine ihre Solidarität und weitere Waffenlieferungen zugesagt. In einem Gastbeitrag für die "Bild"-Zeitung betont Baerbock: "Wir werden der Ukraine weiter beistehen. So lange, bis es keine weiteren Butschas mehr gibt. Damit auch für die Menschen in der Ukraine das wieder normal ist, was für uns eine solche Selbstverständlichkeit ist: Ein Leben in Freiheit." Im Kiewer Vorort Butscha hatten Gräueltaten an der Zivilbevölkerung für internationales Entsetzen gesorgt. Die Ukraine zählte dort nach dem Abzug russischer Truppen mehr als 400 Leichen.
Härte oder Zurückhaltung?
Die Deutschen sind in der Frage, welchen Kurs die Bundesregierung in der militärischen Unterstützung der Ukraine fahren sollte, geteilter Meinung. Jeder Zweite (50 Prozent) vertritt die Haltung, Deutschland solle dabei entschlossen agieren und Härte gegenüber Russland zeigen, wie eine Umfrage von infratest dimap für den ARD-"Deutschlandtrend" ergab. 43 Prozent indes sagten, die Bundesregierung sollte eher zurückhaltend sein, um Russland nicht zu provozieren.
Gesellschaftlicher Frieden in Gefahr
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck erwartet große gesellschaftliche Auseinandersetzungen über die Folgekosten des Ukraine-Kriegs. "Wir werden einen dramatischen Anstieg der Heizkosten erleben", sagte der Grünen-Politiker im Zweiten Deutschen Fernsehen. "Ob da dann die politischen Maßnahmen ausreichen, um gesellschaftlichen Frieden und das Gefühl, dass es fair in diesem Land zugeht, durchzuhalten, das wird die entscheidende Frage des Herbstes und des Winters werden. Da bin ich noch nicht ganz sicher", erklärte Habeck auf die Frage, ob Deutschland bei der Unterstützung der Ukraine und den Sanktionen gegen Russland die Puste ausgehen könnte.
Hausverbot für Lobbyisten aus Russland
Das Europäische Parlament hat russischen Lobbyisten Hausverbot erteilt. Das Zutrittsverbot für Vertreter russischer Firmen gelte "ab sofort" und für alle Gebäude des EU-Parlaments, teilte ein Parlamentssprecher mit. Vertretern russischer Unternehmen dürfe "keinerlei Raum" gegeben werden, "um ihre Propaganda zu verbreiten", twitterte EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola.
uh/hf/se/qu/wa/mak (dpa, afp, rtr)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.