Aktuell: Deutsch-türkischer Appell für Waffenruhe
14. März 2022Das Wichtigste in Kürze:
- Scholz und Erdogan richten gemeinsamen Appell an Putin
- Tschernobyl-Kühlsystem weiter in Gefahr
- Ukrainischer Präsident strebt Treffen mit dem Kremlchef an
- Vierte Verhandlungsrunde der Unterhändler ausgesetzt
- Selenskyj-Berater: Schon mehr als 2500 Tote in Mariupol
Bundeskanzler Olaf Scholz und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan haben gemeinsam einen Waffenstillstand im russischen Krieg in der Ukraine gefordert. "Wir sind uns beide, Präsident Erdogan und ich, völlig einig in der Verurteilung des gewaltsamen Vorgehens Russlands in der Ukraine", sagte Scholz bei seinem Antrittsbesuch in der Türkei. Es müsse zudem sofort sichere Korridore für Zivilisten geben. Erdogan betonte: "Wir werden die Bemühungen um einen dauerhaften Waffenstillstand unentwegt fortsetzen." Man sei sich einig darüber, dass die diplomatischen Bemühungen andauern müssten.
Gemeinsam appellierten Scholz und Erdogan an den russischen Präsidenten Wladimir Putin: "Halten Sie inne." Scholz sagte: "Mit jedem Tag, mit jeder Bombe entfernt sich Russland mehr aus dem Kreis der Weltgemeinschaft, die wir miteinander bilden." Die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine stünden außer Frage. Mit der Türkei als NATO-Partner werde in dem Konflikt eng kooperiert, betonte Scholz.
Die Türkei sieht sich im Ukraine-Konflikt als Vermittler. Das NATO-Land pflegt enge Beziehungen zu Kiew und Moskau. Am Donnerstag waren die Außenminister der Ukraine und Russlands, Dmytro Kuleba und Sergej Lawrow, in Antalya zu ihrem ersten Gespräch seit Beginn des Krieges zusammengekommen. Es blieb ohne greifbare Ergebnisse.
Sorge um Atomkraftwerke
Die Ukraine berichtet von Detonationen in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja im Süden des Landes. Russische Truppen sollen demnach Teile eines Munitionslagers unweit des besetzten AKW gesprengt haben. Die Explosion habe sich bei der Ruine eines Militär-Ausbildungsplatzes ereignet, teilte der ukrainische Atomkraftbetreiber Enerhoatom auf Telegram mit. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen. Von russischer Seite gab es zunächst keine Stellungnahme.
Nachdem der Stromausfall in der von russischen Truppen eingenommenen Atomruine von Tschernobyl zunächst behoben werden konnte, meldete der Netzbetreiber Ukrenergo am Montagmittag eine erneute Störung. Russische Streitkräfte hätten eine Hochspannungsleitung zur Reaktor-Ruine beschädigt. Die Kühlsysteme mussten zuletzt mithilfe von Notstromaggregaten betrieben werden. Die russische Armee hatte das Gelände im Norden der Ukraine am ersten Tag ihres Einmarschs erobert.
Die Hauptstadt Kiew steht weiter unter Artilleriebeschuss. Bei russischen Angriffen auf verschiedene Stadtbezirke wurden nach Angaben der Regionalverwaltung zwei Menschen getötet. Heftige Gefechte gibt es nach Angaben des ukrainischen Zivilschutzes nördlich und östlich der Metropole. Aus Kiew können die Menschen demnach nur noch über Straßen nach Süden fliehen.
Bei einem Angriff russischer Truppen auf einen Fernsehturm nahe der ukrainischen Stadt Riwne sind nach Angaben örtlicher Behörden neun Menschen getötet worden. Neun weitere seien bei dem Beschuss des Turms im westukrainischen Ort Antopil verletzt worden, teilte die Regionalverwaltung im Onlinedienst Telegram mit. Wie auch die anderen Angaben aus dem Kriegsgebiet lässt sich diese Information kaum überprüfen.
Selenskyj will mit Putin direkt sprechen
"Unsere Delegation hat eine klare Aufgabe - alles zu tun, um ein Treffen der Präsidenten zu ermöglichen", erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer in der Nacht zum Montag veröffentlichten Videoansprache. Es sei ein Treffen, auf das alle warteten. Der Weg dorthin sei schwierig, aber notwendig, um wirksame Garantien zu erhalten. Kremlsprecher Dmitri Peskow hatte am Sonntag eine direkte Begegnung des russischen Staatschefs mit Selenskyj nicht ausgeschlossen. Man müsse allerdings verstehen, was das Ergebnis des Treffens sein und was dort besprochen werden solle.
Zuletzt hatten Vertreter der Delegationen der Ukraine und Russlands ihre Verhandlungen zurückhaltend optimistisch bewertet. Beide Seiten könnten sich "schon in den nächsten Tagen" auf eine gemeinsame Position verständigen und entsprechende Dokumente unterzeichnen, sagte der russische Außenpolitiker Leonid Sluzki. Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak rechnete ebenfalls "in wenigen Tagen mit konkreten Ergebnissen".
Unterhändler wollen am Dienstag weiter verhandeln
Die vierte Verhandlungsrunde der Delegationen über ein Ende der Kämpfe, diesmal per Videoschalte, ist nach ukrainischen Angaben bis Dienstag unterbrochen worden. Es handele sich um eine technische Pause für zusätzliche Gespräche in Arbeitsgruppen und eine "Klärung individueller Definitionen", twitterte Präsidentenberater Podoljak. "Die Verhandlungen dauern an."
Die Kommunikation sei schwierig, hieß es in einem Statement Podoljaks. Grund für die bisherige Uneinigkeit seien die zu unterschiedlichen politischen Systeme. In der Ukraine gebe es einen freien Dialog und einen notwendigen Konsens, in Russland hingegen werde die Gesellschaft unterdrückt. Zuvor hatten sich die Delegationen drei Mal persönlich in Belarus getroffen.
Parallel zur neuen Verhandlungsrunde wurden zehn Fluchtkorridore in Aussicht gestellt, durch die Zivilisten unter Beschuss geratene Orte verlassen sollten. Dies betreffe unter anderem Städte in der Nähe von Kiew und in der Region Luhansk, hatte die ukrainische Vize-Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk erklärt.
Zumindest aus der Kiewer Umgebung wurden erfolgreiche Evakuierungsversuche gemeldet. Mehrere andere Korridore kamen jedoch nicht wie geplant zustande. So verhinderte der Beschuss durch russische Truppen nach ukrainischen Angaben erneut humanitäre Hilfe für die eingekesselte Stadt Mariupol im Südosten des Landes.
Ein Konvoi, der am Montag versucht habe, Lebensmittel und Medikamenten zu liefern sowie Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen, sei wie bereits in der vergangenen Woche nicht durchgekommen, sagte Wereschtschuk. Einige Zivilisten hätten die belagerte Hafenstadt aber mit Pkws verlassen können. Wie viele Menschen auf diese Weise aus der Kampfzone herauskamen, blieb zunächst offen. Die Stadtverwaltung spricht von 160 Fahrzeugen.
Im Zuge der Belagerung sollen in Mariupol inzwischen mehr als 2500 Bewohner ums Leben gekommen sein. Selenskyjs Berater Olexii Arestowytsch sagte in einem TV-Interview, dies habe die Stadtverwaltung mitgeteilt. Die russische Führung hatte zuvor wiederholt erklärt, sie ziele auf die militärische Infrastruktur der Ukraine und nicht auf die Zivilbevölkerung.
Russische Nationalgarde räumt Probleme ein
Der Direktor der russischen Nationalgarde überraschte mit dem Eingeständnis von Rückschlägen. Wie Viktor Solotow mitteilte, kommt man – so wörtlich – "in der Ukraine langsamer voran als geplant". Nicht alles gehe so schnell, wie man es gerne hätte. Vor allem seien die großen Städte der Ukraine nicht unter Kontrolle, hieß es. Solotow, der auch Mitglied des russischen Sicherheitsrates ist, gilt als enger Vertrauter von Präsident Wladimir Putin. Die Nationalgarde ist dem Kremlchef direkt unterstellt und hat Truppen in der Ukraine.
Wie die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft berichtet, sollen im Land seit Kriegsbeginn bereits 90 Kinder getötet worden sein. Mehr als 100 Kinder seien verletzt worden, heißt es in einer Erklärung. Die höchste Zahl an Opfern wiesen die Regionen Kiew, Charkiw, Donezk im Osten des Landes, Tschernihiw, Sumy, Cherson, Mykolajiw und Schytomyr auf.
Gegenseitige Schuldzuweisungen
Nach russischen Angaben wurden in Donezk mindestens 20 Menschen bei einem Raketenangriff getötet – angeblich von ukrainischer Seite. Sowohl das Verteidigungsministerium in Moskau als auch der prorussische Separatistenführer Denis Puschilin beschuldigten die Ukraine, es habe sich um einen Angriff mit einer verbotenen Streubombe gehandelt, die noch in der Luft über dem Ziel eine Vielzahl kleiner Sprengkörper freisetzt. Die Ukraine weist den Vorwurf zurück. Es habe sich eindeutig um "eine russische Rakete oder eine andere Art von Munition" gehandelt. Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben beider Seiten nicht.
Nach UN-Angaben haben inzwischen rund 2,7 Millionen Menschen aus der Ukraine im Ausland Zuflucht gesucht. Die meisten blieben zunächst in den Nachbarländern. Allein nach Polen sind nach Angaben des polnischen Grenzschutzes mittlerweile 1,8 Millionen Menschen geflohen. Die beiden Länder verbindet eine 500 Kilometer lange Staatsgrenze.
Auch in Deutschland nimmt die Zahl der ukrainischen Kriegsflüchtlinge zu. Wie das Bundesinnenministerium mitteilte, wurden bis Montagmorgen 146.998 Personen gezählt. Erfasst werden allerdings nur diejenigen Flüchtlinge, die von der Bundespolizei festgestellt werden. Da es im Regelfall keine festen Grenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen gibt und Ukrainer erst einmal ohne Visum einreisen dürfen, könnte die Zahl der nach Deutschland eingereisten Kriegsflüchtlinge tatsächlich bereits deutlich höher sein.
"Ein Akt skrupelloser Grausamkeit"
Mehrere UN-Organisationen forderten unterdessen ein Ende der Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in der Ukraine. "Der Angriff auf die Schwächsten - Babys, Kinder, schwangere Frauen und Menschen, die bereits an Krankheiten leiden, sowie auf das Gesundheitspersonal, das sein eigenes Leben riskiert, um Leben zu retten - ist ein Akt skrupelloser Grausamkeit", erklärten das Kinderhilfswerk UNICEF, der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf. Zugleich forderten die UN-Organisationen einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs seien in seinem Land bereits sieben Krankenhäuser irreparabel zerstört worden, berichtete der ukrainische Gesundheitsminister Wiktor Ljaschko. Die Kliniken in den betroffenen Städten müssten ganz neu aufgebaut werden. Mehr als 100 weitere Gesundheitseinrichtungen wurden nach Ljaschkos Angaben beschädigt. Für besonderes Entsetzen hatte vor einigen Tagen ein russischer Angriff auf das Gebäude einer Geburtsklinik in der Hafenstadt Mariupol gesorgt.
In vielen anderen Krankenhäusern gehen die Vorräte zur Neige, viele Händler können nicht mehr liefern. Die WHO versucht nun gemeinsam mit Partnerorganisationen, dringend benötigte Medikamente und Ausrüstung wie medizinischen Sauerstoff, chirurgische Mittel, Verbandsmaterial und Defibrillatoren bereitzustellen. In den kommenden Tagen würden medizinische Güter konstant geliefert, um den Zugang der Menschen zu lebenswichtigen Medikamenten und medizinischer Versorgung sicherzustellen, so die WHO.
EU einigt sich auf weitere Sanktionen gegen Russland
Die EU-Mitgliedstaaten haben sich auf ein viertes Sanktionspaket gegen Russland verständigt. Details werden zunächst nicht genannt, Diplomaten zufolge gehören zu den Sanktionen ein Importverbot für Stahl und Eisen, ein Verbot von Investitionen in Ölunternehmen und den Energiesektor sowie ein Exportverbot für Luxusgüter, darunter Autos im Wert von mehr als 50.000 Euro. Das Büro der französischen EU-Ratspräsidentschaft erklärte, Russland sollten zudem handelspolitische Vorteile wie der "Meistbegünstigtenstatus" entzogen werden.
Nach übereinstimmenden Agenturberichten soll mit der nächsten Sanktionsrunde auch das Vermögen weiterer Oligarchen eingefroren werden, darunter Roman Abramowitsch, der Eigentümer des britischen Fußballclubs FC Chelsea. Zuvor hatte das aus der EU ausgetretene Großbritannien bereits Strafmaßnahmen gegen Abramowitsch und sieben weitere Oligarchen verhängt.
Mehrere pro-ukrainische Aktivisten besetzten in London eine Immobilie in der Nähe des Botschaftsviertels, die dem Putin-Vertrauten Oleg Deripaska zugeordnet wird. Der Multimilliardär steht inzwischen auf der britischen Sanktionsliste. Die Hausbesetzer erklärten der Nachrichtenagentur PA zufolge, die Immobilie gehöre nun ukrainischen Flüchtlingen.
Russland stoppt Getreideexport
Russland schränkt die Ausfuhr von Weizen, Gerste und Roggen zeitweise ein. Damit solle der Bedarf im Land gesichert werden, sagte Vizeregierungschefin Wiktorija Abramtschenko in Moskau. Die Regierung will nach eigener Darstellung verhindern, dass die Preise für russische Verarbeiter und Verbraucher zu hoch werden. Russland ist der größte Weizenexporteur der Welt. Auch die Ukraine ist ein wichtiger Produzent. Störungen der Getreideausfuhr beider Länder können nach Einschätzung von Experten zu massiven Preissteigerungen auf dem Weltagrarmarkt führen.
UN-Generalsekretär António Guterres warnt vor einer weltweiten Hungerkrise als Folge von Russlands Angriff auf die Ukraine. Beide Länder produzierten zusammen 30 Prozent des global verfügbaren Weizens, sagte Guterres. Geliefert wird das Getreide vor allem nach Afrika und Asien.
IWF: Weltweite Finanzkrise nicht in Sicht
Der Internationale Währungsfonds (IWF) hält gravierende Auswirkungen auf das weltweite Finanzsystem im Fall einer Staatspleite Russlands für wenig wahrscheinlich. Die westlichen Sanktionen schränkten zwar die Fähigkeit Russlands ein, auf seine Ressourcen zuzugreifen und seine Schulden zu bedienen, sagte IWF-Chefin Kristalina Georgiewa dem US-Sender CBS. Das bedeute, dass ein Zahlungsausfall Russlands nicht mehr als unwahrscheinlich angesehen werde. Derzeit sehe sie aber nicht die Gefahr, dass ein solcher Ausfall eine weltweite Finanzkrise auslösen könne. Das Gesamtengagement der Banken gegenüber Russland von rund 120 Milliarden Dollar sei zwar nicht unbedeutend, aber "nicht systematisch relevant".
"Germany4Ukraine" hilft Flüchtlingen
In Deutschland soll derweil ein neues Internet-Portal für Ukraine-Flüchtlinge noch in dieser Woche an den Start gehen. Auf der Plattform mit dem Namen "Germany4Ukraine" könnten sich Geflüchtete auf Deutsch, Englisch, Ukrainisch und Russisch über Hilfsangebote informieren, teilte das Bundesinnenministerium mit. Betroffene sollen dort Angaben zu Unterkunft oder medizinischer Versorgung finden. Hinter dem Vorhaben stehen neben dem Innenministerium auch das Gesundheitsministerium, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die Bundesagentur für Arbeit, das Deutsche Rote Kreuz, die Deutsche Bahn und die Website unterkunft-ukraine.de.
Neues NATO-Manöver in Norwegen
Die NATO begann in Norwegen eine bereits länger geplante Militärübung. An dem Manöver "Cold Response" nehmen nach Angaben des Militärbündnisses rund 30.000 Soldaten, 200 Flugzeuge und 50 Schiffe aus 27 Nationen teil, darunter auch Schweden und Finnland, die nicht Teil der NATO sind.
Auf dem Wasser, in der Luft und an Land soll dabei die Verteidigung Norwegens unter schwierigen klimatischen Bedingungen geprobt werden. "Dies ist eine defensive Übung", sagte der leitende NATO-Kommandeur und Chef des norwegischen Operationskommandos, General Yngve Odlo.
Die NATO hält die "Cold Response"-Übung üblicherweise alle zwei Jahre ab. Das bis zum 1. April dauernde Manöver, das nur wenige hundert Kilometer von der russischen Grenze entfernt stattfindet, war daher schon lange vor Russlands Invasion in der Ukraine angesetzt worden. Moskau wurde nach NATO-Angaben ausführlich informiert und eingeladen, Beobachter zu schicken, lehnte dies aber ab.
qu/jj/djo/sti/wa/cwo (dpa, afp, rtr, kna)
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