Aktuell: Raketeneinschlag in Belarus - Provokation?
30. Dezember 2022
Das Wichtigste in Kürze:
- Belarus glaubt nach Raketenfund an "absichtliche Provokation"
- Russland spricht von 3000 zivilen Opfern bei Kämpfen um Mariupol
- Selenskyj will Moskau vor internationales Strafgericht bringen
- Präsidentenberaterin beklagt 15.000 Vermisste
- Sicherheits-Expertin warnt vor Destabilisierung Europas
Der Sekretär des belarussischen Sicherheitsrats sieht in dem Eindringen einer ukrainischen S-300-Luftabwehrrakete in den Luftraum des Landes keinen Unfall. Das sagte er laut einem Bericht der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA dem Sender Sputnik Belarus. Demnach soll es aus Sicht des Sicherheitsexperten sehr wahrscheinlich sein, dass hinter dem Vorfall "irgendeine Art von Absicht" Kiews stecke.
Aus dem Verteidigungsministerium in Minsk heißt es nach dem Fund einer Flugabwehrrakete auf belarussischem Staatsgebiet: "Entweder wurde die ungelenkte Flugabwehrrakete wegen der schlechten Ausbildung der Mannschaft unabsichtlich abgefeuert, oder die Rakete war defekt, oder aber es handelt sich um absichtliche Provokation der ukrainischen Streitkräfte." Eine entsprechende Stellungnahme verbreitete der Chef der belarussischen Flugabwehr, Kirill Kasanzew, auf Telegram.
Staatsmedien in Minsk hatten am Donnerstag berichtet, dass eine ukrainische S-300-Rakete abgeschossen worden sei, die rund 15 Kilometer weit in belarussisches Territorium geflogen war. Kurz darauf wurde der ukrainische Botschafter in Belarus ins Außenministerium zitiert, wo ihm eine Protestnote wegen des Zwischenfalls überreicht wurde. Kiew seinerseits hat die Bereitschaft erklärt, an der Aufklärung des Vorfalls mitzuarbeiten.
Kiew seinerseits will Provokation Moskaus nicht ausschließen
Das Verteidigungsministerium in Kiew wies zudem darauf hin, dass die Ukraine am Donnerstag von einer Welle russischer Marschflugkörper angegriffen worden sei. "Daher ist auch eine Provokation von Seiten des Terroristen-Staats Russland nicht auszuschließen, der eine Flugroute seiner Marschflugkörper so ausgewählt hat, um ihren Abschuss im Luftraum über Belarus zu provozieren", hieß es.
Das wäre ein ähnlicher Vorfall wie im November, als polnisches Gebiet von Raketenteilen getroffen wurde. Ein solcher Vorfall könnte von Belarus und Russland daher als Vorwand genutzt werden, um von dort aus wieder aktiv zu werden, so die Sorge in der Ukraine.
Belarus ist nicht direkt an Kampfhandlungen in der Ukraine beteiligt. Allerdings hat Präsident Alexander Lukaschenko russischen Truppen die Militärbasen in dem Land für Angriffe auf die Ukraine überlassen. In der Ukraine sind die Sorgen groß, dass Russland von Belarus aus einen neuen Angriff starten könnte.
Russland spricht von 3000 zivilen Opfern bei Kämpfen um Mariupol
Monate nach der blutigen Eroberung der ukrainischen Hafenstadt Mariupol hat Russland von 3000 getöteten Zivilisten gesprochen und damit erstmals eigene Schätzungen veröffentlicht. Die Schäden, die der Stadt bei der Belagerung entstanden sind, bezifferte das russische Ermittlungskomitee in einer Pressemitteilung auf 176 Milliarden Rubel (2,3 Milliarden Euro). Moskau machte für die Schäden und Verluste Kiew verantwortlich. Die massiven Zerstörungen der zivilen Infrastruktur seien nur dadurch zustande gekommen, dass Kiew Wohn- und Krankenhäuser militärisch genutzt habe.
Nach Angaben Kiews sind durch den ständigen russischen Artilleriebeschuss und die humanitäre Notlage, die durch die russische Belagerung entstand, Zehntausende Zivilisten in Mariupol ums Leben gekommen. Auch die EU und die Vereinten Nationen werfen Moskau zahlreiche Kriegsverbrechen während der Kämpfe um Mariupol vor.
Selenskyj will Moskau vor internationales Strafgericht bringen
Nur wenige Stunden nach dem russischen Großangriff am Donnerstag mit Marschflugkörpern und sogenannten Kamikaze-Drohnen sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache: "Mit jedem solchen Raketenangriff treibt sich Russland nur noch tiefer in eine Sackgasse."
Der "Status des größten Terroristen der Welt" werde sich noch lange auf Russland und dessen Bürger auswirken. "Und jede Rakete bestätigt nur, dass das alles mit einem Tribunal enden muss, genauso wird es sein", sagte Selenskyj. In seinen Unterredungen mit ausländischen Staats- und Regierungschefs versucht der ukrainische Staatschef, deren Unterstützung für ein internationales Strafgericht nach dem Vorbild des Nürnberger Tribunals zu gewinnen, vor dem sich Politiker und Militärs aus Moskau für den Angriffskrieg gegen die Ukraine verantworten sollen. In den Nürnberger Prozessen waren nach dem Zweiten Weltkrieg führende Vertreter des nationalsozialistischen Deutschen Reiches verurteilt worden.
Nach Selenskyjs Darstellung hat der jüngste russische Raketenangriff erneut schwere Schäden im Energienetz in weiten Teilen des Landes verursacht. "Dieses Jahr hat noch zwei Tage, vielleicht wird der Feind erneut versuchen, uns dazu zu bringen, das neue Jahr im Dunkeln zu feiern", warnte Selenskyj vor weiteren Angriffen. "Aber egal, was sie vorhaben, eines wissen wir über uns selbst: Wir werden durchhalten."
Weitere Drohnen-Angriffswelle
Auch an diesem Freitag startete Russland nach ukrainischen Angaben Luftangriffe auf das Nachbarland. Eine nächtliche Welle an Drohnenattacken sei aber abgewehrt worden, teilte das ukrainische Militär mit. Alle 16 russischen Fluggeräte iranischer Bauart seien abgeschossen worden. Ziel war demnach vor allem die Hauptstadt Kiew. Allein dort wurden laut Bürgermeister Vitali Klitschko sieben Drohnen unschädlich gemacht. Ein Verwaltungsgebäude sei teilweise zerstört worden.
Tausende Vermisste
Präsidentenberaterin Alona Verbytska betonte, seit Kriegsbeginn in der Ukraine würden Tausende Soldaten und Zivilisten vermisst. "Russland hat aktuell 3392 ukrainische Kriegsgefangene bestätigt, aber in der Ukraine gelten derzeit 15.000 Menschen als vermisst, darunter viele Zivilisten", sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Das Schicksal dieser Menschen sei völlig ungewiss, sagte Verbytska, die sich als Ombudsfrau für die Rechte ukrainischer Soldaten engagiert. "Wir wissen nicht, was mit ihnen geschehen ist", sagte sie. "Befinden sie sich auch in russischer Kriegsgefangenschaft, sind sie aus russisch besetzten Gebieten verschleppt oder womöglich längst umgebracht worden?"
Diese Ungewissheit sei vor allem für die Angehörigen schrecklich, erklärte Verbytska, die bei der Suche nach Vermissten hilft. Ukrainische Behörden haben wiederholt darauf hingewiesen, dass ganze Familien und auch Kinder aus den besetzten Gebieten nach Russland verschleppt würden.
Warnung vor Destabilisierung Europas
Ein durch den Ukraine-Krieg geschwächtes Russland hat nach Ansicht einer Expertin schwere Folgen für die Stabilität angrenzender Regionen. "Jegliche Schwächung von Russland und das mögliche Auseinanderbrechen dieses Vielvölkerstaates hat eine enorm destabilisierende Wirkung auf Europa und darüber hinaus", sagte die sicherheitspolitische Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Claudia Major, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
"Wir müssen uns auch fragen, wie wir mit dem möglichen Chaos umgehen, wenn Russland keine Führungsmacht mehr ist, etwa im zentralasiatischen Raum", so Major weiter. Schon jetzt seien die Folgen in Zentralasien, wo Russland eine hegemoniale Führungsmacht war, sichtbar. "Der Kreml wird dort nach den militärischen Niederlagen in der Ukraine als schwach wahrgenommen und erste Staaten wollen dies nutzen, um sich aus der Einflusssphäre Moskaus zu lösen."
haz/ack/qu/uh (dpa, rtr, afp)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.