Ukraine: Baerbock lässt Kiew weiter warten
11. September 2023
Das Wichtigste in Kürze:
- Außenministerin Baerbock besucht erneut die Ukraine
- Ukraine soll weitere deutsche Marder-Schützenpanzer bekommen
- Kreml gibt Treffen Putins mit Kim Jong Un bekannt
- Russland meldet Wahlsieg der Putin-Partei in der Ukraine
- IAEA-Chef besorgt über russisches Militär in ukrainischem Atomkraftwerk
Bei ihrem Besuch in Kiew hat die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock der Ukraine keine Hoffnung auf eine schnelle Entscheidung der Bundesregierung über eine Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern gemacht. Die Situation sei allen mehr als bewusst, sagte die Grünen-Politikerin nach einem Gespräch mit ihrem ukrainischen Kollegen Dmytro Kuleba. Allerdings müssten wie vor der Lieferung des Luftabwehrsystems Iris-T und den anderen deutschen Waffenlieferungen "sämtliche Fragen geklärt sein".
Baerbock versicherte zugleich, es könne keine Gewöhnung an die russischen Gräueltaten geben. Deswegen stehe Deutschland der Ukraine bei, so lange es nötig sei. Deshalb werde die Bundesregierung ihre humanitäre Soforthilfe um weitere 20 Millionen auf dann 380 Millionen Euro in diesem Jahr aufstocken.
"Wir in Europa wissen: Ihr verteidigt hier auch unsere europäische Freiheit. Dafür sei man den Ukrainern 'auf ewig dankbar'".
Kuleba reagierte mit deutlichen Worten auf das weitere Zögern der Bundesregierung bei der Bitte Kiews nach den Marschflugkörpern, mit deren Hilfe sein Land Ziele hinter den großen russischen Minenfelder treffen will. "Es gibt kein einziges objektives Argument das dagegen spricht", sagte er. Wenn Berlin Fragen zum Einsatz habe, sei Kiew bereit, diese zu beantworten.
Die Ukraine fordert seit längerem Taurus-Marschflugkörper. Kanzler Olaf Scholz (SPD) äußerte sich dazu bisher immer zurückhaltend. Als Grund für die bislang ausgebliebene deutsche Entscheidung für Taurus-Lieferungen gelten Befürchtungen, dass die modernen Marschflugkörper von der Ukraine auch auf Ziele auf russischem Territorium abgefeuert werden könnten und Russland dann Vergeltung üben könnte.
Baerbock pocht auf mehr Korruptionsbekämpfung
Baerbock stattete zum vierten Mal seit Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022 der Ukraine einen Besuch ab. Dieser war aus Sicherheitsgründen zunächst geheim gehaltenen worden. Bei ihrer Ankunft hatte sie der Ukraine anhaltende Unterstützung auf dem Weg in die Europäische Union zugesagt, zugleich aber auf weitere Reformbemühungen etwa im Kampf gegen die Korruption gepocht.
Die Ukraine hat seit Juni 2022 den Status eines EU-Beitrittskandidaten. Die EU-Kommission definierte damals sieben Reformprioritäten, von denen sie einige teils als erfüllt ansieht. Bei der Justizreform und der Mediengesetzgebung könne sich die Bilanz Kiews schon sehen lassen, sagte Baerbock. Aber "bei der Umsetzung des Anti-Oligarchen-Gesetzes und dem Kampf gegen Korruption gilt es noch einen Weg zu gehen".
Ukraine soll weitere deutsche Marder-Schützenpanzer bekommen
Deutschland will der Ukraine in den kommenden Monaten weitere 40 Schützenpanzer vom Typ Marder zur Verfügung stellen. Der Düsseldorfer Rüstungskonzern Rheinmetall soll dafür im Auftrag der Bundesregierung gebrauchte Marder-Panzer aus früheren Beständen der Bundeswehr instand setzen. Der bezifferte das Auftragsvolumen mit einem "höheren zweistelligen Millionenbetrag".
Die Instandsetzungsarbeiten hätten bereits an zwei Standorten des Unternehmens begonnen. Die Auslieferung solle noch in diesem Jahr anlaufen. Bis zu zehn Schützenpanzer pro Monat könnten ausgeliefert werden. Mit der neuen Tranche werde sich die Zahl der deutschen Marder-Panzer, die die Ukraine erhält, auf 80 erhöhen.
Der Marder wurde eigens für die Bundeswehr entwickelt und wird auch noch von ihr genutzt. Nach Angaben von Rheinmetall zählt er zu den "bewährtesten Waffensystemen seiner Art weltweit". Die weiteren Marder-Lieferungen waren auch Teil des 700 Millionen Euro schweren Rüstungspakets, das die Bundesregierung zum Auftakt des NATO-Gipfels im Juli in Litauen angekündigt hatte.
Estland und Lettland vor "größter Investition in die Luftverteidigung"
Die baltischen NATO-Staaten Estland und Lettland wollen gemeinsam das deutsche Flugabwehr-System IRIS-T kaufen. Deutschland löse damit die USA als größten Rüstungslieferanten Estlands ab, erklärte der estnische Verteidigungsminister Hanno Pevkur. Das lettische Verteidigungsministerium sprach von der größten Investition in die Luftverteidigung in der Geschichte beider Länder. Zum vertraglich mit dem Hersteller Diehl Defense vereinbarten Preis wurden unterschiedliche Angaben zwischen 400 Millionen und rund einer Milliarde Euro gemacht. Estland, Lettland sowie der dritte baltische Staat Litauen sind auch Teil der von Bundeskanzler Olaf Scholz vorgeschlagenen Luftverteidigungs-Initiative "Sky Shield".
Kreml bestätigt geplantes Treffen von Putin und Kim Jong Un
Lange war über ein Treffen zwischen Kremlchef Putin und Nordkoreas Machthaber Kim spekuliert worden, nun hat Moskaus es bestätigt. "Auf Einladung von Russlands Präsident Wladimir Putin wird der Staatsratsvorsitzende der Demokratischen Volksrepublik Korea Kim Jong Un in den nächsten Tagen Russland einen offiziellen Besuch abstatten", teilte der Kreml auf seiner Homepage mit. Es wird spekuliert, dass das Treffen in Wladiwostok stattfinden könnte, wo Putin an dem bis Mittwoch dauernden Östlichen Wirtschaftsforums teilnimmt. Die Hafenstadt am Pazifik liegt nur rund 130 Kilometer von der Grenze zum international weitgehend isolierten Nordkorea entfernt.
Die US-Regierung hatte in den vergangenen Monaten mehrfach gewarnt, dass Russland Waffensysteme in Nordkorea für die Fortführung seines Angriffskriegs gegen die Ukraine kaufen könnte. Tatsächlich ist der Angriffskrieg in der Ukraine für Moskau wesentlich langwieriger, kostspieliger und verlustreicher als im Kreml ursprünglich geplant.
Moskau verkündet Sieg bei Scheinwahlen
Die Kremlpartei "Geeintes Russland" hat nach offizieller Darstellung die Regionalwahlen in den von Moskau für annektiert erklärten Gebieten der Ukraine klar gewonnen. In jeder der vier Regionen habe die Partei von Präsident Wladimir Putin mehr als 70 Prozent der Stimmen erhalten, teilte die russische Wahlkommission mit. Unabhängige Beobachter waren nicht zugelassen. Die ukrainische Regierung und ihre westlichen Verbündeten betrachten die Abstimmungen in den Gebieten Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja als unrechtmäßig.
Die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Bundestag, Renata Alt, forderte EU-Sanktionen gegen Kandidaten und Organisatoren. Die Wahlen hätten vor allem das Ziel gehabt, "Russlands vermeintlichen Anspruch auf diese Territorien zu demonstrieren und die Kollaborateure in den lokalen Machtstrukturen zu Loyalitätsbekundungen zu zwingen", sagte Alt dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Berichten zufolge seien die Bewohner der besetzten Gebiete zum Abstimmen genötigt worden, was eine "grobe Verletzung ihrer Menschen- und Bürgerrechte" sei.
IAEA-Chef besorgt über russisches Militär in ukrainischem Atomkraftwerk
Die russische Militärpräsenz im besetzten ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja und Kämpfe in der Nähe der Anlage stellen laut der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) ein Sicherheitsrisiko dar. Das sagte IAEA-Chef Rafael Grossi vor dem Gouverneursrat seiner Organisation. Grossi verwies auf seinen jüngsten Ukraine-Bericht, in dem er von einer "anhaltenden, erheblichen Militärpräsenz" auf dem Gelände des Kernkraftwerks und von mehreren Militär-Lastwagen in einer der Turbinenhallen sprach. Außerdem berichtete Grossi in dem Dokument erneut von den Minen, die zwischen der äußeren und inneren Eingrenzung der Anlage beobachtet worden sind.
Ein Team von IAEA-Beobachtern ist seit einem Jahr ständig in dem frontnahen Kraftwerk. Die Expertinnen und Experten haben bislang von den russischen Besatzern keinen ungehinderten Zugang zu allen Bereichen der Atomanlage erhalten. Russland verkündete Anfang März 2022 die Einnahme des Kraftwerks. Beschädigungen an Gebäuden der Anlage und Stromleitungen im Zuge des Krieges haben Sorgen um einen Atomunfall im größten Kernkraftwerk Europas geschürt.
UN-Beobachterin: Folter ist Teil russischer Kriegspolitik
Eine Beobachterin der Vereinten Nationen hat Russland den gezielten Einsatz von Folter und Misshandlungen im Angriffskrieg gegen die Ukraine vorgeworfen. Die Zahl an glaubhaften Anschuldigungen sei ungebrochen, sagte UN-Sonderberichterstatterin Alice Jill Edwards nach einem einwöchigen Besuch in der Ukraine. Die australische Expertin sammelte Zeugenaussagen von ukrainischen Zivilisten und Kriegsgefangenen. Diese berichteten unter anderem von Strom, der an Ohren und Genitalien angelegt wurde, Scheinhinrichtungen, Schlägen sowie Androhungen von Vergewaltigung und Tod.
"Diese schwerwiegenden Taten wirken weder zufällig noch beiläufig. Sie scheinen Teil einer organisierten staatlichen Politik zu sein, um einzuschüchtern, Angst zu schüren, zu bestrafen oder Informationen und Geständnisse zu erpressen", betonte Edwards. Sie besuchte auch ukrainische Einrichtungen für russische Kriegsgefangene. Diese würden dort gut versorgt und respektvoll behandelt.
Selenskyj sieht "Vorankommen" in Frontgebieten
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat von Fortschritten an der Front berichtet. "In den letzten sieben Tagen gibt es ein Vorankommen" - sowohl im Gebiet Saporischschja als auch rund um die von Russland besetzte Stadt Bachmut, wie Selenskyj in seiner Videoansprache am Sonntagabend sagte. An anderen Frontabschnitten sei es gelungen, die Positionen gegen russische Angriffe zu verteidigen, fügte er hinzu.
Der Staatschef ging auch auf folgenschwere russische Raketen- und Drohnenangriffe der vergangenen Tage ein. Er dankte Feuerwehrleuten, Rettungskräften, Polizisten und Freiwilligen, die in den Städten Kostjantyniwka, Krywyj Rih, Sumy und im Gebiet Odessa dabei geholfen hätten, Verschüttete aus den Trümmern zu befreien. Allein in Kostjantyniwka waren bei einem Einschlag nach offiziellen Angaben 16 Menschen ums Leben gekommen.
Humanitäre Helfer aus Spanien und Kanada getötet
Die Ukraine hat Russland für den Tod von zwei ausländischen Helfern in der Ostukraine verantwortlich gemacht. Die Spanierin und der Kanadier hätten für die Hilfsorganisation "Road to Relief" gearbeitet, teilte das Verteidigungsministerium in Kiew mit. Es sprach von einem "schmerzhaften, irreparablen Verlust". Zwei weitere Helfer aus Deutschland und Schweden wurden demnach bei dem Vorfall nahe der umkämpften Stadt Bachmut verletzt. Nach Angaben der Organisation hatte ein Geschoss das Auto getroffen, in dem die vier Helfer in der Region Donezk unterwegs waren. "Road to Relief" hilft bei Evakuierungsaktionen in Frontgebieten und verteilt Hilfsgüter.
Kiew: Gespräche über ATACMS-Raketen gehen voran
In den Gesprächen mit den USA über eine Lieferung reichweitenstarker Lenkflugkörper vom Typ ATACMS gibt es nach Angaben des ukrainischen Staatschefs Wolodymyr Selenskyj Bewegung. Es gehe vorwärts und er hoffe, dass die Ukraine das Waffensystem im Herbst bekomme, sagte Selenskyj dem amerikanischen TV-Sender CNN. Das System sei militärisch sehr wichtig, auch damit die Gegenoffensive nicht stoppe.
ATACMS-Lenkflugkörper haben eine Reichweite von bis zu 300 Kilometern. Sie können vom Boden aus gegen Ziele am Boden abgefeuert werden. Die Regierung in Kiew fordert sie bereits seit längerem, die USA zögern bisher. Von Deutschland erbittet die Ukraine ein ähnliches Waffensystem, nämlich Marschflugkörper vom Typ Taurus. Diese sind für die Zerstörung von Bunkern und geschützten Gefechtsständen auf bis zu 500 Kilometer Entfernung geeignet. Auch Deutschland zeigt sich bislang zurückhaltend. Wegen der hohen Reichweite der Waffensysteme gibt es die Sorge, dass mit ihnen auch Ziele in Russland angegriffen werden könnten.
Steinmeier dringt auf "gerechten Frieden"
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat Vermittlungsversuche zur Lösung des Ukraine-Konflikts begrüßt. Es sei wichtig, dass auf politischer Ebene gemeinsam mit der Ukraine darüber nachgedacht werde, wie eine Friedenslösung aussehen könnte, erklärte Steinmeier beim Internationalen Friedenstreffen der katholischen Gemeinschaft Sant' Egidio in Berlin. Entsprechende Gespräche in der Vergangenheit in Kopenhagen und Dschidda bezeichnete er als "ersten wichtigen Schritt".
Zugleich betonte Steinmeier, es müsse ein gerechter und langfristiger Frieden sein, "nicht nur eine Gefechtspause, die Russland erlaubt, neue Truppen an die Front zu bringen". Wann Frieden gewagt werden könne, "diese Entscheidung liegt bei der Ukraine", sagte der Bundespräsident in Anlehnung an das Motto des Treffens "Den Frieden wagen".
"Nicht die Ukraine oder die Länder, die sie unterstützen, verweigern sich dem Frieden", betonte Steinmeier. Es sei Russland, das sich dem Frieden verweigere. Putin habe es in der Hand. "Wenn er seine Armee zurückzieht, ist das das Ende des Krieges." Wenn aber die Ukraine ihre Verteidigung einstelle, sei dies das Ende der Ukraine, meinte der Bundespräsident und verteidigte in diesem Zusammenhang abermals die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine.
uh/ehl/wa/mak/kle (dpa, afp, rtr)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.