Ukraine-Affäre: Das Schweigen des Verlierers
20. November 2019Wolodymyr Selenskyj wollte weltberühmt werden. Sein Traum ist in Erfüllung gegangen - anders, als er sich das vorgestellt hat. Vom Weltruhm habe er als Schauspieler und Produzent geträumt, sagte Selenskyj in einem Interview Anfang Oktober. "Das wollte ich nicht", so der 41-jährige Präsident der Ukraine über seine Rolle als Schlüsselfigur bei den Vorermittlungen für ein mögliches Amtsenthebungsverfahren gegen US-Präsident Donald Trump.
Ein halbes Jahr, nachdem der erfolgreiche Fernsehkomiker zum Präsidenten der Ukraine gewählt wurde, steht Selenskyj - und mit ihm das gesamte Land - im Blickpunkt der US-Politik und der Medien weltweit, Tendenz steigend. Auslöser war der anonyme Bericht eines Whistleblowers in US-Sicherheitskreisen über ein Telefonat zwischen Trump und Selenskyj am 25. Juli. Die Demokraten im US-Kongress werfen dem amerikanischen Präsidenten Amtsmissbrauch vor, weil er Selenskyj Ermittlungen gegen den früheren Vizepräsidenten Joe Biden nahegelegt hatte, der gegen Trump bei der Wahl 2020 antreten will. Vor dem Telefonat hatte Trump militärische Hilfe für die Ukraine in Höhe von hunderten Millionen US-Dollar gestoppt. Trump und Selenskyj bestreiten, dass es Druck aus Washington auf Kiew gegeben habe.
Sollte es zum Impeachment-Verfahren kommen, dürften auch ukrainische Politiker Einladungen zur Aussage nach Washington erhalten. So viel Aufmerksamkeit hatte die frühere Sowjetrepublik in ihrer jüngsten Geschichte nicht einmal während der Krim-Annexion 2014 erhalten.
Selenskyjs amerikanische Dilemma
Doch während sich damals die Ukraine weltweit um Beachtung bemühte, ist es diesmal genau umgekehrt. Selenskyj äußert sich kaum öffentlich zu den Entwicklungen in Washington. Die Ukraine sei "müde" von der Geschichte um die umstrittene Beteiligung von Bidens Sohn am privaten ukrainischen Gasförderunternehmen Burisma, sagte Selenskyj am Dienstag dem US-Fernsehsender CNN. Man habe "genug eigene Probleme".
Selenskyj stecke in einem Dilemma, so der Kiewer DW-Kolumnist Serhij Rudenko. "Sollte er zugeben, dass es Druck aus Washington gegeben habe, würde Selenskyj das Wohlwollen des jetzigen US-Präsidenten verlieren", meint Rudenko. "Wenn er das dementiert, könnte er damit die Tür zum Weißen Haus zuschlagen für den Fall, dass etwa Joe Biden dort einzieht." Ähnlich sieht es Wolodymyr Jermolenko von der Medien-Organisation Internews-Ukraine. "Ich glaube, Kiews Strategie besteht darin, Parteinahme zu vermeiden", sagte Jermolenko der DW. Die Ukraine könne es sich nicht leisten, die US-Unterstützung zu verlieren, denn dann würde sie Russland gegenüber faktisch alleine stehen.
Ganz neutral ist Kiew doch nicht geblieben. Der Fall Burisma werde von der ukrainischen Staatsanwaltschaft neu geprüft, hieß es aus Kiew. Auch die von Trump angesprochene angebliche Einmischung der Ukraine in die US-Präsidentenwahl 2016 könne untersucht werden, sagte Selenskyj und verwies darauf, dass Washington noch keine Beweise für eine solche Einmischung vorgelegt habe.
Die Ukraine ist "toxisch" geworden
Die negativen Folgen der Ukraine-Affäre sind für die Ukraine selbst bereits zu spüren. "Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, dass wir zum Spielball werden", sagte der ukrainische Außenminister Wadym Prystajko in einem BBC-Interview Mitte November. Das sei "leider bereits der Fall", und Kiew versuche, aus dieser Rolle herauszukommen.
Washington gab die US-Militärhilfe inzwischen frei und werde Kiew weiter unterstützen, so US-Außenminister Mike Pompeo. Aber die Beziehungen auf diplomatischer Ebene sind gestört. Beide Länder haben seit Monaten keine regulären Botschafter in den jeweiligen Hauptstädten. Nach dem Rücktritt des US-Sonderbeauftragten für die Ukraine, Kurt Volker, im Zusammenhang mit der Affäre ist dieser für Kiew sehr wichtige Posten weiter unbesetzt.
"Nach der Ereignissen der letzten Monate sind ukrainische Diplomaten in Washington toxisch geworden", sagt Kostjantyn Jelisejew, ukrainischer Diplomat und ehemaliger stellvertretender Präsidialamtschef unter Selenskyjs Vorgänger Petro Poroschenko. Andere Beobachter in Kiew gehen in ihrer Analyse noch weiter und sagen, die Ukraine als Land sei aus Sicht der USA "toxisch" geworden. "Die Ukraine insgesamt und alle Hilfsprogramme werden penibel untersucht", schreibt die Leiterin der Kiewer Denkfabrik New Europe Center, Aljona Hetmantschuk, in ihrem Blog.
Kein neues Treffen zwischen Trump und Selenskyj?
Vor diesem Hintergrund ist unwahrscheinlich, dass sich die USA, wie von Selenskyj angestrebt, an Verhandlungen mit Russland zur Lösung der Ostukraine-Frage beteiligen. Ebenfalls fraglich ist, ob Selenskyj mitten im drohenden Impeachment-Verfahren der Einladung Trumps folgen und zu einem offiziellen Besuch nach Washington reisen wird. Umgekehrt ist schwer vorstellbar, dass Trump nach Kiew reist. Dann wäre das kurze Treffen der beiden Präsidenten am Rande der UN-Vollversammlung im September auf absehbare Zeit auch das letzte gewesen.