Türkei meldet Eroberung in Nordsyrien
12. Oktober 2019Drei Tage nach Beginn ihrer Syrien-Offensive ist die türkische Armee offenbar in die Grenzstadt Ras al-Ain in Nordsyrien eingedrungen. Die Stadt sei unter Kontrolle der türkischen Truppen, teilte das Verteidigungsministerium in Ankara mit. Kurdische Kämpfer wiesen dies umgehend zurück.
Der Kampf um Ras al-Ain dauere an, sagte ein Vertreter der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). Die SDF sind ein Bündnis der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und arabischer Milizen. Ein AFP-Korrespondent und die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichteten, dass die türkische Armee zwar in Ras al-Ain einmarschiert sei. Die Gefechte dauerten demnach aber an. Einem Reuters-Reporter zufolge waren dicke Rauchschwaden zu sehen. Zudem seien Geschützfeuer aus der Stadt sowie Kampfjets über Ras al-Ain zu hören.
Nach dem Rückzug von US-Soldaten aus dem syrischen Grenzgebiet hatte die Türkei am Mittwoch ihre lange angedrohte Militäroffensive gegen die YPG in Nordsyrien begonnen. Die Armee bombardierte die Grenzstädte Tal Abjad und Ras al-Ain aus der Luft, zudem rückten türkische Bodentruppen und ihre syrischen Verbündeten aus mehreren Richtungen auf die beiden Ortschaften vor.
Todesopfer auf beiden Seiten
Seit Beginn der Offensive seien 415 feindliche Kämpfer getötet worden, teilte das türkische Verteidigungsministerium mit. Die Syrische Beobachterstelle für Menschenrechte sprach von 74 Toten aufseiten des Kurdenbündnisses SDF und von 49 Toten aufseiten der mit der Türkei verbündeten Rebellen. Zudem seien 30 Zivilisten ums Leben gekommen, die meisten davon in Tal Abjad. Laut den Vereinten Nationen flohen bislang 100.000 Menschen vor den Kämpfen.
Die Beobachtungsstelle meldet zudem, dass eine Autobombe in der Nähe eines Gefängnisses explodiert sei, in dem Extremisten der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) festgehalten werden. Die Explosion habe vor der zentralen Haftanstalt in der Stadt Al-Hassaka stattgefunden. Die SDF hätten Verstärkung geschickt, um die IS-Häftlinge am Ausbruch zu hindern. Berichte über Tote oder Verletzte gab es nicht.
SDF-Sprecher Mustafa Bali machte den IS für die Attacke verantwortlich. Der "Islamische Staat" hatte am Vortag bereits Verantwortung für einen Autobombenanschlag in Kamischli in Nordsyrien übernommen, bei dem mindestens drei Zivilisten getötet wurden.
Die Türkei will entlang der Landesgrenze auf syrischem Gebiet eine 30 Kilometer tiefe sogenannte Sicherheitszone errichten und verlangt den Abzug der Kurden-Miliz aus dem Gebiet. Dort sollen dann bis zu zwei Millionen in die Türkei geflohene meist arabische Syrer angesiedelt werden. Die Türkei befürchtet ein Erstarken der Kurden jenseits ihrer Südgrenze und damit auch der nach Autonomie strebenden Kurden auf eigenem Territorium.
Die SDF-Rebellen waren im Kampf gegen die radikal-islamische IS-Miliz im Bürgerkriegsland Syrien ein wichtiger US-Verbündeter. Die USA machten mit einem Truppenabzug aus Nordsyrien dem NATO-Partner den Weg frei für die Offensive.
Auch US-Truppen und Krankenhäuser unter Beschuss?
Am Freitag waren US-Angaben zufolge auch US-Truppen im Norden Syriens unter Beschuss türkischer Artillerie geraten. Nach Angaben des Pentagon wurde niemand verletzt. Der Vorfall habe sich in der Nähe der Grenzstadt Kobane ereignet. Das sei eine Gegend, von der die Türkei wisse, dass dort US-Soldaten anwesend seien. Das türkische Verteidigungsministerium wies die Darstellung zurück. Es sei definitiv nicht auf US-Soldaten geschossen worden, so Minister Hulusi Akar.
Am frühen Samstagmorgen soll es zudem einen Bombenangriff auf eine medizinische Ersthilfestation des Kurdischen Roten Halbmonds in Serekaniye gegeben haben. Das meldet das Hilfswerk Medico International. Dies sei nicht der erste Angriff auf Nothilfe-Einrichtungen, hieß es.
"Diese Angriffe müssen sofort aufgeklärt werden - insbesondere, ob sie gezielt gegen die medizinische Erstversorgung von Zivilisten gerichtet sind, wovon derzeit auszugehen ist", sagte Anita Starosta von Medico International. Schon beim türkischen Einmarsch in Afrin sei ein vom Kurdischen Halbmond betriebenes Krankenhaus zerstört worden. Diese Angriffe brächen das Völkerrecht, so Starosta.
Die USA haben die Türkei zur Deeskalation in Nordsyrien aufgefordert. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist trotz der stärker werdenden internationalen Kritik und der Androhung von Sanktionen jedoch nicht bereit, den Militäreinsatz zu beenden. "Wir werden nicht aufhören, egal, was gesagt wird", sagte er am Freitag. Für den Fall, dass sich das türkische Militär bei seinem Vorgehen gegen die Kurden-Miliz und das von ihr geführte Rebellenbündnis SDF "nicht an die Regeln halten", lässt US-Präsident Donald Trump Strafmaßnahmen vorbereiten.
Auch EU-Sanktionen stehen im Raum. Beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag und Freitag steht das Thema auf der Agenda. Die Türkei bewege sich mit ihrem Handeln nicht auf dem Boden des Völkerrechts, sagte der scheidende EU-Kommissar Günther Oettinger im Deutschlandfunk. Das Vorgehen der Türkei sei völlig falsch und durch nichts zu rechtfertigen. Dennoch halte die Europäische Union an dem Flüchtlingsabkommen mit der Türkei fest. Man sei vertragstreu und erwarte das auch von Erdogan.
Die Arabische Liga verurteilte unterdessen die türkische Militäroffensive im Nordosten Syriens. Die Angriffe seien eine "Invasion in das Land eines arabischen Staates und ein Angriff auf seine Souveränität", sagte Generalsekretär Ahmed Abul Gheit. Der irakische Außenminister Mohamed Ali Alhakim, der amtierende Präsident der Arabischen Liga, sagte er bei einem von Ägypten einberufenen Krisentreffen der Staatenallianz, die Militäraktion werde die humanitäre Krise und das Leiden der syrischen Bevölkerung verschärfen. Zusammen mit dem libanesischen Außenminister Gebran Bassil forderte er, Syrien wieder als Mitglied in die Arabische Liga aufzunehmen.
Vorschlag aus Moskau
Ein überraschender Vorschlag kommt nun aus Moskau: Syrien müsse von ausländischer Militärpräsenz befreit werden, zitieren russische Nachrichtenagenturen Präsident Wladimir Putin. "Jeder, der sich auf dem Territorium eines Staates, in diesem Fall Syrien, unrechtmäßig befindet, muss dieses Gebiet verlassen. Das gilt für alle Staaten", sagte Putin laut russischen Agenturen in einem Fernsehinterview.
Russlands Präsident habe dabei auch deutlich gemacht, dass die russischen Streitkräfte in Syrien ebenfalls bereit seien, das Land zu verlassen - sobald eine neue, legitime syrische Regierung Moskau mitteilt, dass sie deren Hilfe nicht mehr brauche.
AR/jj/kle (rtr, afp, ap, kna)