Kurden fordern Ende der Doppelmoral
9. Mai 2019Schon vor sechs Wochen waren die kurdischstämmigen Wähler die Königsmacher. Es war ein hauchdünner Vorsprung von wenigen tausend Stimmen, der dem sozialdemokratischen CHP-Kandidaten Ekrem Imamoglu Ende März den Sieg bei der Istanbuler Kommunalwahl bescherte. Einen Anteil an dem knappen Erfolg hatte die pro-kurdische Partei HDP. Denn die Parteiführung hatte in einigen Städten ihre Kandidaten bewusst zurückgezogen und stattdessen dazu aufgerufen, den jeweiligen CHP-Kandidaten zu wählen, um einen Sieg von Erdogans AKP zu verhindern. Der Plan ging auf: In Istanbul, Ankara, Adana, Antalya konnte der CHP-Kandidat sich knapp gegen den islamisch-konservativen Kandidaten von der AKP durchsetzen.
Sorge um kurdische Stimmen
Doch in Istanbul steht der Sieg auf Messers Schneide: Die türkische Wahlkommission (YSK) verkündete am Montag, dass die Bürgermeisterwahl in Istanbul annulliert wird und am 23. Juni Neuwahlen stattfinden. Unter Erdogans politischen Gegnern geht nun die Angst um, dass sich die kurdischen Wähler dieses Mal weniger solidarisch zeigen könnten. Der Grund: Eine mutmaßliche Charme-Offensive des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Kurz bevor die Neuwahlen ausgerufen wurden, kam es zu einer scheinbar großzügigen Geste: PKK-Chef Abdullah Öcalan durfte das erste Mal seit 2011 wieder Kontakt zur Außenwelt aufnehmen. Die Erlaubnis der türkischen Regierung kam unerwartet. Zwei seiner Verteidiger hatten Öcalan im Gefängnis besucht und ihnen hatte er eine Botschaft an seine kurdischen Anhänger mitgegeben: Man solle nicht mehr auf Gewalt, sondern lieber auf politische Lösungen setzen. Der Chef der verbotenen Arbeiterpartei PKK sitzt seit 20 Jahren auf der Insel Imrali im Gefängnis - überwiegend in Isolationshaft.
Kein zweiter Friedensprozess
Nun wird vor allem in sozialen Netzwerken der Türkei spekuliert, ob Erdogan kurz vor den Neuwahlen einen neuen mutmaßlichen Friedensprozess mit den Kurden einleiten wird, um kurdische Wähler bei den Bürgermeisterwahlen in Istanbul für sich zu gewinnen.
Eine ähnliche Strategie hat der türkische Präsident schon einmal verfolgt. Zwischen 2012 und 2015 bemühte sich die Regierung Erdogan um Verhandlungen mit der PKK, die sie jedoch nach den Parlamentswahlen im Juni 2015 platzen ließ. Der Grund dafür, so vermuten Beobachter, sei gewesen, dass sich aufgrund der kurdenfreundlichen Politik zu viele ultranationale Wähler von der AKP abgewandt haben. Nach dem Scheitern der Gespräche gab es vermehrt Terroranschläge der PKK und Ausschreitungen zwischen dem türkischen Militär und PKK-Milizen im Südosten der Türkei.
Allerdings gibt es derzeit keine konkreten Hinweise auf einen Verhandlungswillen der türkischen Regierung. Präsident Erdogan verkündete sogar schroff: "Nein. Ein Friedensprozess steht nicht zur Debatte."
Und hätte eine kurdenfreundliche Politik überhaupt Auswirkungen auf die Neuwahl in Istanbul? Von der HDP-Führung gibt es Signale, dass sie nach wie vor dem CHP-Kandidaten Ekrem Imamoglu beistehen wird.
Messen mit zweierlei Maß
Und die kurdischen Wähler? Deren Votum wird erst nach der Wahl feststehen. Doch Sirri Sakik, ehemaliger Bürgermeister der ostanatolischen Stadt Agri und ein Urgestein in der kurdischen Politik, glaubt, dass die Kurden im Juni ein zweites Mal ihr Kreuzchen auf dem Stimmzettel bei der CHP machen werden. Sie würden sich weiterhin für Menschenrechte, Demokratie und gegen Ungerechtigkeit stark machen und sich mit dem CHP-Kandidaten Imamoglu solidarisieren.
Zwar macht Sirri Sakik sich wenig Sorgen um die Wahl - doch er ist wütend über etwas anderes: "Die Öffentlichkeit muss endlich ihre Doppelmoral ablegen."
Alle Welt empöre sich über die Annullierung der Bürgermeisterwahl in Istanbul. Die Missachtung der Wahlergebnisse in den Kurdengebieten sei jedoch kaum Thema in der Öffentlichkeit. Sakik bezieht sich auf die osttürkischen Provinzen Mus und Malazgirt, wo die lokale Wahlkommission der HDP ihren Wahlerfolg aberkannt hatte. "Den Wahlsieg hat man uns aus den Händen gerissen. Aber in unserem Fall macht niemand einen Finger krumm", beklagt sich der Politiker.
Auch die kurdische Politikerin Fatma Kurtulan kritisiert, dass die Ungerechtigkeiten in den Kurdengebieten zu wenig Beachtung fänden. Schon lange vor der "erzwungenen Neuwahl" in Istanbul habe die Regierung in kurdischen Gemeinden das Recht gebrochen. "Der Wille der Bürger, die sich für die HDP entschieden haben, wurde an Zwangsverwalter übertragen. Unsere Vorsitzenden, leitende Angestellte der Kommune, unsere Mitglieder und unsere Wähler wurden inhaftiert."
Missachtung des Volkswillens
Seit 2016 hat Erdogan in 97 kurdischen Gemeinden die demokratisch gewählten Bürgermeister und Gemeindevorstände durch AKP-nahe Vertreter ersetzt. Die türkische Regierung beschuldigte die HDP-Mitglieder, mit der kurdischen Terrororganisation PKK zu kooperieren. 40 der Beschuldigten sitzen bis heute in Untersuchungshaft. Ausschlaggebend für das Vorgehen der Regierung war auch, dass PKK-Milizen im Sommer 2015 mehrere Städte besetzten und zu autonomen Zonen erklärten.
Bei den Kommunalwahlen konnte die HDP jetzt knapp 50 Gemeinden von der AKP zurückerobern. Dennoch glauben wenige Kurden an Selbstbestimmung. Denn Präsident Erdogan deutete bereits während des Wahlkampfes an, dass er wieder Zwangsverwalter einsetzen werde, wenn die HDP große Erfolge verzeichnen könne. Diese Missachtung des Volkswillens im Südosten der Türkei empört viele Kurden. Präsident Erdogan wird mit der "Öcalan-Geste" die Wogen nicht einfach glätten können.