Türkei fürchtet neue Flüchtlingswelle
14. September 2019Hunderttausende Syrer haben sich in den äußersten Nordwesten des Landes geflüchtet. Notgedrungen kampieren sie entlang der türkischen Grenze. Die meisten von ihnen kommen aus der Region Idlib. Das umkämpfte Gebiet ist die letzte verbliebene Rebellenhochburg, die von den syrischen Regierungstruppen noch nicht zurückerobert wurde. Die seit Wochen andauernde Militäroffensive wird von massiven Luftschlägen begleitet und hat nach Angaben der Vereinten Nationen mittlerweile mehr als 400.000 Menschen obdachlos gemacht.
Die Flüchtlinge hoffen nun darauf, dass die türkische Regierung die Grenzen für sie öffnet. Türkischen Medienberichten zufolge haben sich Staatspräsident Erdogan, das türkische Innenministerium und der Türkische Rote Halbmond bereits auf dieses Szenario eingestellt.
"500.000 Menschen werden über die Grenze kommen"
Für Kerem Kinik wird eine Grenzöffnung immer wahrscheinlicher: "Die Angriffe des Assad-Regimes auf zivile Siedlungen verursachen eine neue, große Flüchtlingswelle", warnt der Präsident des Türkischen Roten Halbmonds. "Wenn die Angriffe so weitergehen, wird eine halbe Million Menschen über die Grenze kommen."
Kinik berichtet davon, dass die humanitären Verhältnisse in den Flüchtlingslagern auf türkischer Seite schon jetzt unzureichend seien. "Wir brauchen dringend Verpflegung und Notunterkünfte. Wir appellieren dringend an die Kriegsparteien, den Konflikt schnellstmöglich beizulegen."
Metin Corabatir, Präsident des Zentrums für Asyl- und Migrationsforschung (IGAM) in Ankara, fordert mehr internationales Engagement in der Region. "Angesichts der Zustände in Nordsyrien müssen sich mehr internationale Hilfsorganisationen nach Idlib aufmachen, um die Auswirkungen der Angriffe des Assad-Regimes zumindest abzumildern."
Angst vor Dschihadisten
Eine Massenflucht in die Türkei will Ankara unbedingt vermeiden. Die türkische Regierung fürchtet vor allem, dass mit den schutzbedürftigen Zivilisten auch islamistische Terroristen ins Land gelangen könnten. "Bevor wie die Grenze öffnen, werden alle Risiken geprüft, damit sich keine Dschihadisten unter den Menschen befinden", hieß es aus dem türkischen Innenministerium.
Genaue Angaben darüber, wie viele terroristische Kämpfer sich derzeit in der Provinz Idlib aufhalten, gibt es nicht. "Sie kamen aus der ganzen Welt, auch aus dem Westen", erklärt Oytun Orhan vom Recherchezentrum für den Mittleren Osten (ORSAM) in Ankara, "und jetzt versuchen sie, wieder aus der Gegend zu entkommen".
Friedenszone für türkische Regierung die Ideallösung
Eigentlich hatte die türkische Regierung eine ganz andere Lösung für die nordsyrische Flüchtlingskrise vorgesehen: Am türkisch-syrischen Grenzstreifen sollte eine "Friedenszone" eingerichtet werden, um langfristig syrische Flüchtlinge wieder in Nordsyrien anzusiedeln. Darüber hatten sich vor gut einem Monat die Türkei und die USA verständigt - Washington hatte Unterstützung beim Aufbau einer solchen Zone zugesagt. Häuser, Infrastruktur und Kontrollposten sollten vor allem für diejenigen Syrer bereitgestellt werden, die sich schon jetzt in der Türkei aufhalten.
Doch die Mitte August getroffene Einigung zwischen Washington und Ankara ist vage - viele Einzelheiten bleiben unklar. Der Türkei geht es vor allem darum, eine Pufferzone zu errichten, aus der die kurdischen Milizen der YPG herausgedrängt werden sollen. Für Washington hingegen sind die kurdischen Kämpfer wichtige Verbündete im Kampf gegen islamistische Milizen. Außerdem gibt es Uneinigkeit über die Größe der Pufferzone. Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar verlangte mehrfach, dass der Streifen eine Breite von 30 Kilometer besitzen soll; die USA wollen eine Breite von höchstens 10 Kilometern.
Mit jedem Tag, der vergeht, ohne dass die Parteien sich auf die genauen Modalitäten zur Einrichtung der Schutzzone einigen können, wächst der Druck an der syrisch-türkischen Grenze. Ein Grenzübertritt von hunderttausenden Flüchtlingen in die Türkei würde die politischen Verhältnisse im Land extrem belasten. Schon jetzt leben mehr als 3,5 Millionen Vertriebene in der Türkei - kein anderes Land hat so viele Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Doch mit Ausbruch der Wirtschaftskrise im vergangenen Sommer und der damit verbundenen zunehmenden Arbeitslosigkeit kippte die Stimmung in der Bevölkerung. Immer mehr Türken wünschen sich nun, die syrischen Flüchtlinge so schnell wie möglich wieder abzuschieben. Die politische Stimmungslage gefährdet auch die Machtposition des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner regierenden AKP.
Orhan: Beginn eines Domino-Effekts?
Syrienexperte Oytun Orhan glaubt, dass die neue Flüchtlingskrise sich sogar bis nach Europa auswirken könnte. "Die USA lehnen die von der Türkei vorgeschlagene Breite der Friedenszone ab. Sollte die Türkei weiter darauf bestehen und eine Einigung nicht zustande kommen, wird Erdogan seine Ankündigung wahrmachen: Er öffnet dann die Grenzen (zu Griechenland)".
In der Vergangenheit nutzte der türkische Präsident diese Ankündigung schon mehrfach als Druckmittel. Im März 2016 hat Ankara mit der Europäischen Union ein Migrationsabkommen abgeschlossen: Sobald syrische Flüchtlinge auf griechischen Inseln ankommen, werden diese von der Türkei automatisch wieder zurückgenommen. Im Gegenzug leistet die EU Milliardenhilfen. Doch der türkische Präsident hat Brüssel mehrfach vorgeworfen, erteilte Zusagen nicht einzuhalten. Umgekehrt gibt es auch Kritik von Seiten der EU, dass Ankara das Migrationsabkommen missachte. Grund für diese Annahme ist, dass die Zahl von Flüchtlingen, die über die Türkei in die EU kommen, in den vergangenen Monaten wieder gestiegen ist.Vor allem auf den griechischen Inseln spitzt sich die Situation in den Flüchtlingslagern zu. Normalerweise können diese rund 6.000 Menschen aufnehmen, derzeit harren dort aber mehr als 20.000 Flüchtlinge aus.