Türkei: Ein Land zwischen Scharia und Demokratie
27. Juni 2024Ist die Scharia eine gute Rechtsordnung? Zwei YouTuber diskutierten vor etwa zehn Tagen darüber und seitdem beschäftigt das Thema nahezu das ganze Land. Vor allem wird diskutiert, ob der YouTuber Diamond Tema mit seinen Äußerungen über den Propheten Mohammed die religiösen Gefühle der Bevölkerung verletzt hat.
Dieser Ansicht sind das türkische Präsidialamt und das türkische Justizministerium. Sie gaben nämlich bekannt, dass gegen Diamond Tema wegen "Volkverhetzung" und "Erniedrigung der religiösen Gefühle" ermittelt wird und auch ein Haftbefehl gegen den 30-Jährigen erlassen wurde.
Straftat oder freie Meinungsäußerung?
Der türkische YouTuber mit albanischen Wurzeln dagegen versucht in mehreren weiteren Videos zu erklären, dass er keine Straftat begangen und nur die Überlieferungen über Propheten aus allgemein anerkannten Sammlungen vorgelesen habe. "Weder juristisch noch moralisch gibt es hier ein Problem", wiederholt er. "Die Situation so zu drehen und so zu präsentieren, dass ein Gottloser einen Scharia-Verfechter geschlagen hätte, ist ein Akt der Manipulation."
Der Vorfall zeigt erneut, wie tief gespalten die türkische Gesellschaft ist. Die einen sind der Ansicht, dass alles, was Diamond Tema gesagt hat, unter die Meinungsfreiheit falle. Die anderen wiederum behaupten, dass er den Propheten Mohammed verunglimpft und die religiösen Gefühle verletzt habe.
Was war los?
In der besagten YouTube-Sendung sprach Diamond Tema, ein Agnostiker und überzeugter Laizist, mit dem nationalistisch-konservativen Influencer Asrin Tok. Tok hält die Scharia für ein besseres System als die Demokratie. In über zwei Stunden diskutierten sie über verschiedene Themen, von Grund- und Minderheitenrechten bis hin zu Demokratie oder über die Gleichberechtigung von Mann und Frau.
Auch auf die Eheschließung von Mohammed mit seiner letzten Frau Aischa kamen sie zu sprechen. Vielen islamischen Quellen zufolge soll Aischa bei der Verlobung sechs, beim Vollzug der Ehe neun Jahre alt gewesen sein.
"Glaubst du, dass dein Prophet ein sechsjähriges Mädchen geheiratet hat? In einem Scharia-System darf ein Moslem ein sechsjähriges Mädchen heiraten. Findest du das richtig?", konfrontierte Diamond Tema seinen Gegner.
Das reichte schon aus, gegen ihn Sturm zu laufen. Im Netz kursieren seitdem millionenfache Morddrohungen gegen den YouTuber - auch gegen seine Familie. Tema ist enttäuscht, vor allem wegen der Einmischung des türkischen Justizministers, die einer Vorverurteilung gleichkomme. "Er ist auch mein Minister, er müsste auch meine Rechte schützen", so Tema weiter.
Unter diesen Umständen entschied sich der türkisch-albanische YouTuber erst einmal in Albanien zu bleiben. In die Türkei will er nur dann reisen, wenn sich die Lage beruhigt hat.
Türkei ist gespalten
Seit der Machtübernahme 2001 treibt die islamisch-konservative AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan die Polarisierung des Landes voran. Die Narrative, dass seit der Gründung der Republik vor hundert Jahren die Gläubigen und Konservativen, also Erdogans Klientel, ständig diskriminiert und unterdrückt worden seien, propagiert er heute noch.
Im Laufe seiner Herrschaft hat der 70-jährige Staatspräsident allerdings seine eigene Elite geschaffen und aus den extremistischen Orden und Bruderschaften mächtige Unterstützer gemacht und diese eng an sich gebunden. Heute fühlen sich Menschen, die eine strenge Trennung von Staat und Religion befürworten, unterdrückt.
Scharia laut Studien bei Bevölkerung wenig beliebt
Laut Untersuchungen der Türkischen Stiftung für Wirtschaftspolitische Studien (TEPAV) gaben im Jahr 2016 noch 75 Prozent der Menschen an, in einem laizistischen Land leben zu wollen. Vier Jahre danach stieg der Anteil derer, die eine klare Trennung zwischen Staat und Religion befürworteten, auf 81 Prozent.
Die Scharia wünschten sich damals 22 Prozent. Vier Jahre später, 2020, sank ihr Anteil auf 17 Prozent. Rund 85 Prozent in der Bevölkerung sagen, dass die Religion in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielt. Für die Gruppe von 18-24-Jährigen wiederum war die Religion von geringerer Bedeutung.
Sind Islam und Scharia dasselbe?
Am Sonntag zeigten sich 15 regierungskritische Theologen besorgt über die aktuelle Scharia-Debatte. In einer Erklärung schrieben sie: Die Scharia sei nicht die Religion oder der Islam selbst. Im Interview mit der DW weist einer der Unterzeichner, Cemil Kilic, darauf hin, dass seit Jahren durch islamische Bruderschaften und Gemeinden und mit von ihnen gelenkten Medien intensiver propagiert wird, dass die Scharia und der Islam ein und dasselbe seien.
Was ist die Scharia?
Aus der Sicht von Serdar Kurnaz, Professor am Berliner Institut für Islamische Theologie der Humboldt-Universität, ist diese Frage nicht so einfach zu beantworten. Denn die Scharia sei über die Geschichte hinweg unterschiedlich gedeutet worden. "Scharia ist ein göttliches Normensystem, das nicht festgeschrieben ist und auch keine textuelle Grundlage hat, von der man sie einfach ablesen und umsetzen kann", so Kurnaz im Interview mit der DW weiter.
Genau das sorgt immer wieder für Auseinandersetzungen. Nicht nur in der Türkei und nicht nur zwischen den Gläubigen und nicht Gläubigen, sondern auch unter den praktizierenden Muslimen. Denn es gibt unterschiedliche Scharia-Verständnisse.
Der Berliner Professor für islamisches Recht erklärt die Scharia so: In Anlehnung an die Offenbarungsschriften zu unterschiedlichen Themen des alltäglichen Lebens der Muslime und der religiösen Praxis, versuche man Normen herzuleiten, die im Einklang mit dem göttlichen Normensystem seien. "Aber man weiß nicht genau, was das göttliche Normensystem ist. Wir vermuten sozusagen, durch die Offenbarungen herauslesen zu können, was im Sinne Gottes wäre."
Daher schwinge sehr viel menschliche Auslegung in der Scharia mit, ergänzt Kurnaz. Die Scharia ist aus seiner Sicht kein monolithisches Gebilde und starr - sondern sie ist dynamisch und anpassungsfähig. Insbesondere in Bezug auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, lasse sie sich immer neu aushandeln und neu ausformen.