Chaos als Normalität
22. März 2016Schon von Weitem kommen sie auf die Helfer zugelaufen. Kleine Kinder, gehüllt in wild zusammengewürfelte Kleidungsstücke, die Hände weit vor sich ausgestreckt, die braunen Augen vor Hunger aufgerissen. Die Zeltplanen, in denen sie mit ihren Familien leben, liegen gut versteckt im Gestrüpp. Im Hintergrund blitzt das Meer.
"Taksim", "Taksim" rufen die freiwilligen Helfer mit den orangefarbenen Westen. Sie mühen sich ab, die Wasserkanister, die Babywindeln, den Bohneneintopf durch das unwegsame Gelände zu schleppen. "Taksim", arabisch für "Teilen", "nicht alles für sich behalten", ist hier zum zentralen Begriff geworden.
Traum Europa - Realität Plastikzelt
Francis de Mik ist eine großgewachsene Holländerin mit Kümmerinstinkt. Sie ist mit einem Türken verheiratet, ganz in der Nähe haben sie ihr Ferienhaus: "Ich habe gehört, dass hier draußen sogar eine Schwangere dabei ist. Man glaubt einfach nicht wie die Menschen hier leben". Sie ist ganz außer Atem, ringt nach Worten, aber auch nach Luft und Fassung um die Szenerie zu beschreiben. Aber Worte sind hier sowieso nicht nötig, Kommunikation nur mit Händen und Füßen möglich.
Niemand hier spricht Türkisch, die Wenigsten Arabisch, Englisch schon gar nicht. Die Meisten der rund ein Dutzend Männer, Frauen und Kinder kommen aus Afghanistan. Über 5000 Kilometer haben sie schon zurückgelegt. Der Traum Europa scheint so nah. Die Realität jedoch bedeutet: Plastikzelt.
Touristenresorts und Küstenwache
Selten prallen unterschiedliche Lebenswelten so hart aufeinander wie hier, an der türkischen Ägäisküste. Touristenhochburgen wie Cesme, gut 80 Kilometer von Izmir entfernt, sind seit Monaten das Flüchtlings-Nadelöhr nach Europa. Die Bilder, die sich Francis und den anderen bieten sind schwer zu greifen: Im Rücken sind die beleuchteten Hotelfassaden der Touristenstadt zu sehen. Vor ihnen, nicht einmal acht Kilometer entfernt und nur durch das azurblaue Meer getrennt, liegt friedlich die griechische Insel Chios.
Und genau in der Mitte das Häuflein Menschen, nur eine der zahllosen Gruppen, die entlang der Küste auf eine günstige Gelegenheit warten, auf die andere Seite zu gelangen. Ein erfolgreiches Überqueren der Meerenge wird jedoch immer schwerer seitdem die türkischen Behörden, die Polizei und Küstenwache, die Kontrollen verschärft haben.
Zwischen Hilfsbereitschaft und Abstumpfung
Für viele Einheimische ist die Situation der Menschen längst Teil eines traurigen Alltags geworden. Ozcan Dogan ist in Cesme groß geworden. "Ich muss doch schon alleine wegen meiner Tochter helfen, ich will doch nicht, dass Menschen hier sterben und meine Tochter so etwas mitbekommt", erzählt er während er Wasserflaschen in das Auto der Helfer hievt: "Seit über einem Jahr läuft das so. Der Menschenstrom reißt einfach nicht ab."
Hier aber sei für die meisten Schluss. Die Flüchtlinge könnten nicht weiter, würden in Cesme und der Region stranden. Fast schon routiniert spult er die Sätze herunter. Man merkt ihm an: Es nicht bei Weitem nicht das erste Gespräch, das er mit einem Fremden über die Situation in seinem Ort führt.
Picknickatmosphäre bis die Polizei kommt
Es scheint fast so, als ob der der Umgang mit der Flüchtlingskrise zum Alltag geworden ist. Trotz der absurden Szenen, die sich tagtäglich in der Region abspielen, merkt man im Ort selbst keine Aufgeregtheit. Für Anil Aktas liegt das an der Tatsache, dass sich in den letzten Monaten eine regelrechte Routine um den Umgang mit Flüchtlingen entwickelt hat. "Gerade Cesme zieht die Aufmerksamkeit der Schlepper und Flüchtlingen auf sich", so der Wissenschaftler von der Bilkent Univeristät in Ankara.
In seinen Studien konzentriert sich Aktas auf die sozioökonomischen Veränderungen, die der Flüchtlingsstrom in der Türkei ausgelöst hat. Als besonders abstrus empfindet der Wissenschaftler auch, dass es an der Ägäisküste inzwischen als vollkommen normal gilt, dass Schmuggler Hotels als Ausgangsbasis für ihre Touren nach Griechenland nutzen.
Auch die Verteilung von Hilfsgütern ist zum Alltagsphänomen geworden. So an diesem Tag an der Steilküste gegenüber zu Chios. Routiniert teilen die Afghanen die gebrachten Gaben, routiniert packen Francis und die anderen Helfer ihre, nun leeren, mitgebrachten Taschen zusammen. Alles läuft so friedlich ab, fast möchte man meinen, es könnte sich um ein Picknick im Freien handeln. Arm zwar und aufs Nötigste beschränkt. Aber eben doch ein Picknick. Erst ganz zum Schluss fällt die Fassade in sich zusammen. Es geht das Gerücht, die Polizei sei im Anmarsch. Panik bricht aus. Die Menschen rennen weg.