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Tunesien: Wird Migration Topthema im Wahlkampf 2024?

Jennifer Holleis | Tarak Guizani
19. Dezember 2023

Die Zahl der aus Tunesien nach Europa kommenden Migranten hat sich in diesem Jahr verdoppelt. In Tunesien selbst leiden die Geflüchteten unter den extrem harten Lebensbedingungen.

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Migranten in Zelten nahe des Gebäudes der Internationalen Organisation für Migration
Straßenlager: Geflüchtete kampieren in TunisBild: Yassine Gaidi/AA/picture alliance

Angesichts des Krieges in Gaza ist ein anderes Drama am Mittelmeer in den Hintergrund der weltweiten Aufmerksamkeit getreten: das der Migrantinnen und Migranten, die versuchen, von Afrika aus nach Europa zu gelangen. Laut einer aktuellen Mitteilung des italienischen Innenministeriums kamen zwischen Januar und November 2023 rund 146.000 Menschen mit kleinen Booten in Italien an - ein Anstieg um 65 Prozent gegenüber den mehr als 88.000 Personen im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die Hälfte von ihnen reiste demnach aus Tunesien ein.

Zugleich hat die tunesische Küstenwache im selben Zeitraum auch fast 70.000 Personen - mehr als doppelt so viele wie 2022 - an der Überfahrt in italienische Gewässer gehindert. Die meisten Migranten wurden nahe der tunesischen Hafenstadt Sfax abgefangen. Von dort aus beträgt der Seeweg zur italienischen Insel Lampedusa rund 130 Kilometer.

Geflüchtete in Tunesien: Misshandelt und abgeschoben

Die kürzlich von der Küstenwache veröffentlichten Statistiken weisen auf einen starken Anstieg der Zahl nicht-tunesischer Migranten hin. Ihr Anteil unter beträgt 78 Prozent. Im vergangenen Jahr lag er noch bei 59 Prozent.

Einer dieser Flüchtenden ist Enosso aus Burkina Faso. Im Interview mit der DW bat er darum, seinen Nachnamen nicht zu veröffentlichen. "Ich kam vor drei Monaten nach Tunesien und habe seitdem zweimal versucht, nach Italien zu gelangen", so der 30-Jährige. "Jeder Versuch hat mich rund 1000 Euro gekostet." Doch die erste Reise endete bereits nach sieben Kilometern, die zweite nach zwölf. "Die tunesische Küstenwache war nicht gewalttätig. Aber sie hat uns an der Überfahrt gehindert und nach Sfax zurückgeschickt", sagt Enosso.

Afrikanische Flüchtlinge im Hafen von Sfax
Menschenrechtsorganisationen werfen den tunesischen Behörden vor, Migranten zu misshandelnBild: Ferhi Belaid/AFP/Getty Images

Nicht jeder habe das Glück, unversehrt nach Tunesien zurückkehren zu können, sagt Lauren Seibert, zuständig für Flüchtlings- und Migrantenrechte bei Human Rights Watch (HRW), im DW-Gespräch. In diesem Jahr dokumentierte HRW mehrere Fälle, in denen Mitglieder der tunesischen Polizei, des Militärs, der Nationalgarde und der Küstenwache  Geflüchtete misshandelt und rechtswidrig kollektiv ausgewiesen haben. Seibert: "Wenn die Abfangaktionen ohne ernsthafte Kontrolle und Rechenschaftspflicht zunehmen, drohen weitere Übergriffen auf Migranten."

Ungeachtet derartiger Risiken wartet auch Mohammed Awal Saleh aus der Republik Benin auf seine Chance, nach Italien zu kommen. Die tunesische Polizei hat ihn vor einigen Wochen aufgegriffen und in einem Olivenhain außerhalb von Sfax abgesetzt. "Jetzt regnet es und wir wissen nicht, wo wir Schutz suchen können", erzählt Saleh der DW.

Umstrittener Migrationspakt mit der EU

Im Juni bot die Europäische Kommission dem tunesischen Präsidenten Kais Saied ein finanziell üppig ausgestattetes, als "Migrationspakt" bezeichnetes Partnerschaftsprogramm an, das die Zuwanderung nach Europa verringern soll.

Damals stellte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dem wirtschaftlich angeschlagenen Tunesien bis zu 900 Millionen Euro und weitere 105 Millionen Euro für das laufende Jahr 2023 in Aussicht. Im Gegenzug sollte das nordafrikanische Land irreguläre Migration möglichst verhindern. Das Angebot überstieg fast um das Dreifache die Summe, die Tunesien in den beiden vorangegangenen Jahren erhalten hatte. Dann aber erklärte Saied, sein Land werde nicht zum Schleusenwärter für Migranten.

"Bisher gibt es nur eine nicht bindende Absichtserklärung", kommentiert Heike Löschmann, Leiterin des Tunis-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, den Stand der Verhandlungen. Diese sehe fünf Bereiche der Zusammenarbeit vor, darunter die Energiewende und den Ausbau der Bildung. Nur eine Säule des Abkommens betreffe direkt die Migration

Gewalt und Verfolgung treiben mehr Menschen nach Europa

Seit Oktober sei die Migration zurückgegangen, sagt Ramadan Ben Omar vom tunesischen Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte der DW. Das liege nicht nur an dem raueren Seewetter im Herbst und Winter. "Die tunesischen Behörden haben die Grenzkontrollen verschärft und Aktionen gegen Schmuggler und Bootsbauwerkstätten gestartet", begründet er den Rückgang.

Es sei gut möglich, dass die Fluchtbewegungen "nicht viel mit dem Migrationspakt zu tun haben", meint die Politologin Hager Ali vom German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg. Vor allem die steigende Zahl der aufgegriffenen Nicht-Tunesier spiegele die politische Situation in Staaten wie Burkina Faso, Mali, Guinea, Elfenbeinküste, Sudan, Eritrea und Libyen. "Diese Länder erlebten in den vergangenen zwei Jahren Militärputsche, politische und wirtschaftliche Instabilität, extreme Gewalt, Verfolgung und Binnenvertreibung. Das hat viele Menschen zur Flucht veranlasst."

Der tunesische Präsident Kais Saied während einer Rede
Verliert die Gunst der jungen Wähler: Präsident Kais SaiedBild: Tunisian Presidency/APA Images/ZUMA/picture alliance

Diese Entwicklung könnte erklären, weshalb die Statistik der Küstenwache ausweist, dass der Anteil der tunesischen Migranten Richtung EU von 41 Prozent im Jahr 2022 auf 22 Prozent im Jahr 2023 auf nahezu die Hälfte gesunken sei, sagt Heike Löschmann. Zwar sei auch der Wunsch jüngerer Tunesier, ihr Land zu verlassen, weiterhin ungebrochen - doch die Zahl der Geflüchteten aus Subsahara-Afrika sei enorm angestiegen. 

Zudem haben sich die Lebensbedingungen für diese Migranten in Tunesien im ablaufenden Jahr stark verschlechtert. Im Februar entfachte Präsident Saied eine Gewaltwelle gegen afrikanische Geflüchtete, als er ihnen vorwarf, sie wollten Tunesien von einem "arabisch-muslimischen" in ein "afrikanisches" Land verwandeln. Und Abschiebungen von Geflüchteten in die Libysche Wüste kostete mehr als 100 Menschen das Leben. 

Dürre verschärft Tunesiens Wirtschaftskrise 

Die Migranten halten sich in einem Land auf, das seinerseits unter hohem ökonomischem Druck steht. Angaben des tunesischen Statistikamtes zufolge betrug die Inflation im November 8,3 Prozent. Die Arbeitslosigkeit lag bei 15 Prozent. Zudem setzte die anhaltende Dürre den Agrarsektor unter Druck - und der gibt vielen Migranten Arbeit. Das führte zu einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 16,4 Prozent.

Selbst der Kauf von Lebensmitteln ist schwierig geworden. "Manchmal kann ich mir nicht einmal mehr einfache Weizenknödel leisten", sagt Mohammed Awal Saleh aus Benin der DW.

Menschenschmuggel hat Hochkonjunktur in Tunesien

Migration und Wirtschaftskrise dürften auch die im November 2024 anstehenden Präsidentschaftswahlen dominieren, erwarten Beobachter. Der im Oktober 2019 demokratisch gewählte, seit dem Sommer 2021 aber zunehmend autoritär regierende Saied habe inzwischen vor allem bei jungen Wählern an Unterstützung verloren, sagt Hager Ali. 

"Für Kais Saied steht viel auf dem Spiel", so die Politologin. "Leider haben wir in den vergangenen Jahren bei den Europawahlen gesehen, dass die Verunglimpfung von Migranten, insbesondere aus Subsahara-Afrika, als Wahlkampfstrategie gut funktioniert. Denn sie lenkt die Frustration der Wähler auf verletzliche Menschen. Sie sind ein leichtes Ziel."

Jennifer Holleis
Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.
Tarak Guizani Freier Korrespondent Tunesien