Streit um Demokratie und Volksbefragung
13. Januar 2022Diesen Freitag stehen in Tunesien wieder Demonstrationen an: Am 11. Jahrestag des Arabischen Frühlings wollen viele Bürger und politische Parteien, darunter die als vergleichsweise moderat geltenden Islamisten der Ennahda-Partei, trotz Corona-bedingter abendlicher Ausgangssperren auf die Straße gehen, um gegen das Herrschaftsgebaren von Präsident Kais Saied zu demonstrieren, der im vergangenen Jahr kurzerhand das Parlament entmachtet hatte.
Nur einen Tag später steht bereits eine bemerkenswerte politisch-technische Neuerung an, mit der Präsident Saied laut eigener Darstellung das Land aus der Krise und zugleich wieder in demokratische Bahnen lenken will: Vom 15. Januar an - so jedenfalls der Wunsch des seit Monaten ohne parlamentarische Kontrolle agierenden Staatschefs - soll sich Tunesiens Bevölkerung am ersten Online-Referendum über die Zukunft des Landes beteiligen.
Das Referendum soll bis März dauern
Zu sechs Themenkomplexen sind die Tunesier um ihre Ansicht gebeten, darunter Bildung, Kultur, Wahlen und Wirtschaft. Um diese mitzuteilen, müssen sie sich mit ihrer Passnummer auf einer Website namens E-Istichara ("E-Beratung") registrieren. Anschließend erhalten sie auf ihrem Mobiltelefon einen Zugangscode und können an der Umfrage teilnehmen.
Das Online-Referendum, das Anfang Januar mit einer Testphase eingeleitet wurde und bis März laufen soll, ist Teil eines umfassenden, von Kais Saied angestoßenen Plans zur Änderung der tunesischen Verfassung.
"Verfassungskonformer Staatsstreich"?
Saied hatte im vergangenen Juli nicht nur das Parlament des Landes entmachtet, sondern auch den damaligen Premierminister entlassen und sich selbst Notstandsbefugnisse erteilt. Angesichts der politischen Stagnation und anhaltenden Korruption sei er gezwungen gewesen, die Kontrolle über die Exekutive selbst zu übernehmen, begründete er den Schritt, der von nicht wenigen Bürgern begrüßt wurde, obwohl er wesentliche demokratische Errungenschaften außer Kraft setzte.
Saieds Machtübernahme eine Dekade nach der Revolution des Jahres 2011 hat das Land gespalten. Um dessen Probleme zu lösen, habe Saied gar nicht anders handeln können - sagen seine Anhänger. Seine Kritiker hingegen bezeichneten sein Vorgehen als "verfassungskonformen Staatsstreich". Der Präsident sei ein potenzieller Diktator und gefährde die aufkeimende Demokratie.
Angesichts der aktuellen Entwicklung hätten viele Menschen in Tunesien und im Ausland Saied aufgefordert, einen Fahrplan vorzulegen, um Tunesien in ein System mit demokratischer Rechenschaftspflicht zurückzuführen, fasst der Politologe Anthony Dworkin vom European Council on Foreign Relations (ECFR) die Entwicklung zusammen.
"Ihre Meinung, unsere Entscheidung"
Saieds im Dezember angekündigter Fahrplan sieht für Juli 2022 ein Verfassungsreferendum vor. Demnach sollen die Tunesier über den neuen, von Saied und einem von ihm ausgewählten Expertenausschuss ausgearbeiteten Verfassungsentwurf abstimmen. Einfließen in den Entwurf sollen dann auch die Ergebnisse der jetzigen digitalen Volksbefragung.
Zum Ende des Jahres sind dann Wahlen geplant. Grundlage für deren Organisation und Ablauf ist das in der neuen Verfassung beschriebene Wahlsystem.
Die digitale Volksbefragung beziehungsweise Online-Konsultation hat die tunesische Öffentlichkeit ebenso gespalten wie Saieds weitere Pläne für das Land. Schon der Slogan der Website - "Ihre Meinung, unsere Entscheidung" - lasse Fragen am politischen Charakter des Unternehmens offen, monieren Kritiker. Saied selbst hat bereits erklärt, er strebe ein präsidentielles System mit direkter Demokratie auf regionaler Ebene anstelle eines nationalen Parlaments an.
Analphabeten außen vor
"Das ist eine kluge Initiative", lobt Akram al-Shahed, ein Bankangestellter aus Tunis, die Initiative des Präsidenten gegenüber der DW. Er ist überzeugt. "Saied will alle Bürger gleichbehandeln. Er privilegiert nichts und niemanden, weder Parteien noch Eliten. Unabhängig von den politischen Neigungen des Präsidenten leben wir in einer digitalen Welt, und jeder sollte sich deren Spielregeln anpassen."
Das sehen freilich nicht alle Tunesier so. "Die Frage ist doch nicht, ob man Online-Befragungen akzeptiert oder ablehnt", sagt Rahma al-Habbasi, eine ebenfalls von der DW befragte Kommunikationstechnikerin aus Tunis. Vielmehr könne es technisch bedingt große Schwierigkeiten geben, sagt sie mit Verweis auf die regionalen Unterschiede sowohl bei der Internetversorgung wie auch der Bildung.
Tatsächlich haben nur etwa 66 Prozent der Tunesier einen regulären Internetzugang. Anfang dieses Monats beziffert das tunesische Sozialministerium den Anteil der Analphabeten unter der Bevölkerung mit 18 Prozent - immerhin rund zwei Millionen Menschen, die an einer digitalen Volksbefragung überhaupt nicht ohne fremde Hilfe teilnehmen könnten. Angesichts dieser Zahlen könne der Konsultationsprozess nicht wirklich inklusiv sein, bemängeln Kritiker.
Vorwurf mangelnder Transparenz
"IWatch", eine Organisation zur Überwachung der Korruption, die eng mit der internationalen Anti-Korruptions-NGO "Transparency International" kooperiert, kritisiert zudem die fehlende Transparenz der Website: Niemand wisse, wer sie erstellt habe, wie sicher die persönlichen Daten seien oder wer sich die Fragen für das Referendum ausgedacht habe, teilte die Organisation in einer Erklärung mit.
"Wir glauben, dass die Fragen - wer immer sie konzipiert hat - einen Versuch darstellen, den Willen der Bevölkerung zu lenken und ihr Recht auf Selbstbestimmung einzuschränken", so "IWatch".
Mit digitalem Datenschutz und Fragen des Internetzugangs befasste internationale Organisationen wie "Access Now" und "Freedom House" weisen zudem darauf hin, dass die für die Befragung vorgesehene Website zwar die tunesischen Datenschutzgesetze respektiere, diese selbst aber längst veraltet seien.
Führende Repräsentanten der Partei Afek Tounes wie auch der immer noch einflussreichen Ennahda kritisierten die Online-Konsultation ebenfalls.
Prozess gegen politische Gegner
Einer der schärfsten Kritiker Saieds, der von 2011 bis 2014 amtierende Interimspräsident Moncef Marzouki, rief auf seiner Facebook-Seite dazu auf, "sie (die Gruppe um Präsident Saied. Anm. d. Red.) und ihre idiotische Befragung zu ignorieren". Die Website würde später dazu missbraucht, diejenigen Tunesier zu identifizieren, die nicht mit Saied übereinstimmen, warnte Marzouki.
Marzouki selbst wurde am 22. Dezember in Abwesenheit wegen "Untergrabung der Staatssicherheit" zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Seine Verurteilung sei politisch motiviert, da er Saieds jüngste Aktionen offen kritisiert habe, erklärte der 76-Jährige, heute in Paris lebende Mediziner und Menschenrechtsaktivist dazu.
In der vergangenen Woche wurde Marzouki zusammen mit weiteren 18 Tunesiern angeklagt. Sie werden beschuldigt, im Jahr 2019 gegen Wahlgesetze verstoßen zu haben. Zur Gruppe der Angeklagten gehören auch vier ehemalige Premierminister sowie Vorsitzende politischer Parteien.
Wachsende Besorgnis
Dessen ungeachtet unterstützen größere Teile der Bevölkerung und der politischen Parteien jedoch Saieds Fahrplan. Dieser spiegele "einen klaren und soliden Reformwillen", erklärte beispielsweise die tunesische Baath-Partei. Die linke "Volksfront" begrüßte ihn als Versuch, korrupte islamistische Politiker von der Macht zu entfernen.
Als Saied das Parlament ausschaltete, jubelten ihm vor allem viele einfache Bürger Tunesiens durchaus zu. Insgesamt neun Regierungen hatten es in mehr als zehn Jahren nicht vermocht, die katastrophale wirtschaftliche Lage des Landes zu lösen. Bereits lange vom Saieds Amtsantritt deuteten Umfragen darauf hin, dass die Mehrheit der Tunesier ihr Land auf einem falschen Weg sehen.
Seit geraumer Zeit gibt das zunehmend autokratische Verhalten des Präsidenten allerdings offenkundig selbst einigen seiner Anhänger Anlass zur Sorge.
Feigenblatt für Machtkonzentration?
"Seine Entscheidungen lassen die Skepsis der Bürger wachsen", sagt Anthony Dworkin vom ECFR. "Seit seiner Machtergreifung im Juli haben sich einige ihm ursprünglich gewogene Stimmen gegen ihn gewandt." Es zeige sich, dass er das Land "in Richtung einer stärker zentralisierten Macht führen" wolle, so Dworkin.
Aus diesem Grund sei die öffentliche Meinung hinsichtlich der digitalen Umfrage gespalten. "Im Grunde ist dies zwar besser, als hätten die Menschen überhaupt keine Stimme ", so der Tunesien-Experte. "Tatsächlich nimmt sich das Projekt aber wie ein Feigenblatt aus: Es sieht aus wie eine Geste ohne innere Substanz."
Es sei auch wichtig, das Projekt in breiterem Kontext zu betrachten, so Dworkins weiter. "Es gibt bemerkenswert wenig Klarheit zur Frage, wie der Fahrplan danach funktionieren wird. Es gibt keine offizielle Beteiligung anderer politischer Gruppen oder der Zivilgesellschaft. Alles findet im Rahmen eines politischen Systems statt, in dem die gesamte politische Macht derzeit in den Händen von Saied liegt."
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.