Machtfrage Verfassung
24. Mai 2013Eigentlich hätte es schon vor einigen Monaten so weit sein sollen: Die neue tunesische Verfassung sollte bereits im Oktober 2012 vorliegen. Sie hätte den Weg frei gemacht für Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, auf die das ganze Land wartet.
Doch noch immer ringen säkulare und islamistische Parteien und Gruppen um den Text. Inzwischen liegt der dritte Entwurf vor. Der wurde zwar von den Ausschüssen gebilligt, ist aber umstritten. Dabei geht es im Kern um die Frage, wie islamistisch die neue tunesische Verfassung sein wird.
Nach Ansicht des renommierten tunesischen Verfassungsrechtlers Yadh Ben Achour ebnet der vorliegende Text "den Weg zu einer religiösen Diktatur": Er lasse "zu viel Raum für gefährliche Interpretationen, die im Widerspruch zum freiheitlichen Geist einer revolutionären Verfassung stehen können".
Wahlversprechen gebrochen
Der Streit um die Verfassung ist der Streit um ein Politik- und Gesellschaftsmodell. Tunesien ist tief gespalten zwischen einem starken islamistischen Lager und einem nicht ganz so starken säkularen Lager.
Es geht um Grundwerte, und wie sie in der neuen Verfassung festgeschrieben werden: Wird die Bindung an die international gültigen Menschenrechte geknüpft an kulturelle Besonderheiten des tunesischen Volkes - wie es in einem Entwurf heißt? Ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau vom Familien- bis zum Erbrecht garantiert, der Schutz der Religion fest verankert, das heißt auch der Religionsfreiheit?
In all diesen Fragen gibt es noch keine letztendliche Festlegung. "Zwar haben sich alle Parteien während der Wahl im vergangenen Jahr für die Gleichberechtigung von Mann und Frau ausgesprochen, doch heute will das keine in der Verfassung festschreiben", kritisiert Lobna Jribi. Sie streitet für die säkulare Ettakol-Partei in der verfassungsgebenden Versammlung.
Gespenster der Vergangenheit
Doch in dieser Versammlung - die am Ende mit einer Zweidrittel-Mehrheit die neue Verfassung verabschieden muss - hat die islamistische Regierungspartei Ennahda eine komfortable Mehrheit mit 136 von insgesamt 217 Sitzen. Und die setzt sich für eine stärkere Verknüpfung von Religion und Staat ein.
Die Bevölkerung steht dabei in weiten Teilen hinter der Ennahda. Denn Trennung von Staat und Religion, eine gewisse Gleichberechtigung von Männern und Frauen - das gab es schon zur Zeit der Diktatur Ben Alis. Deshalb haben säkulare Ideen für viele Tunesier keine Glaubwürdigkeit mehr: Sie werden mit einer verlogenen und korrupten Diktatur in Verbindung gebracht.
Hier streitet Lobna Jribi für Trennschärfe: "Uns ist der zivile Charakter des Staates wichtig, Tunesien ist kein rein laizistischer und kein theokratischer Staat." Das heißt: Schutz der Religion - ja. Religion als Grundlage für Gesetze, Gerichtsentscheidungen, politische Ordnung - nein!
"Natürlich gibt es eine starke offizielle Staatsreligion, auf die in der Verfassung Bezug genommen wird. Die gelehrt wird und die auch geschützt wird durch den Staat", sagt Jribi. "Der Staat ist verantwortlich für den Schutz der Gotteshäuser. Der Staat schützt und verantwortet die Imame und ihre Predigten. Und er muss auch darüber wachen, dass die Predigten mit der moderaten Ausprägung des Islam übereinstimmen, wie wir sie in Tunesien seit Jahrhunderten praktizieren."
Europa lässt Haltung vermissen
Letzteres ist bisher nicht der Fall. Finanziert mit Geld aus Katar und Saudi-Arabien, sind nach der Revolution radikale Imame und Organisationen nach Tunesien geströmt, die für einen wahabitischen, also streng konservativen Islam als Politik- und Gesellschaftsmodell werben. Über die Moscheen im Land gewinnen sie die Herzen und die Köpfe einer desillusionierten jungen Generation, die auch nach dem Wegbrechen der Diktatur vergeblich auf Perspektiven wartet.
Die deutsche und europäische Außenpolitik agiere hier nicht klug, kritisiert Herta Däubler-Gemlin, ehemalige deutsche Justizministerin, die in Tunesien den Verfassungsprozess begleitet. Europa engagiere sich zu wenig, zeige keine klare Haltung und keine Geschlossenheit: "Kritik an uns ist berechtigt: Warum unterstützen wir nicht noch viel entschiedener die säkularen Kräfte in den Transformationsstaaten?", fragt Däubler-Gmelin im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Denn während die säkularen Kräfte häufig vergeblich auf Unterstützung warten, können Islamisten und auch Extremisten bis heute auf Geld und Unterstützung aus dem arabischen Ausland zählen. "Das gilt nicht nur für Nordafrika, sondern auch für den Jemen, wo wir eine vergleichbare Methode der Einflussnahme sehen", betont Däubler-Gmelin. "Es ist aus meiner Sicht an der Zeit, dass die EU und Deutschland überdenken, an wen wir da ständig Waffen verkaufen." 2012 hatte Deutschland Rüstungsgüter im Wert von 1,42 Milliarden Euro in die Golfstaaten geliefert, darunter nach Katar und Saudi-Arabien. Regelmäßig berichten Medien über das saudische Interesse an deutschen Leopard-2-Kampfpanzern, Radpanzern vom Typ Boxer und Patrouillenbooten.
Kampf gegen Salafisten
Und das gewaltbereite salafistische Milieu jenseits der politischen Islamisten wächst. Erst Mitte Mai war es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Anhängern der Salafisten-Bewegung Ansar al-Scharia, der Verbindungen zur Al Quaida nachgesagt werden, und Sicherheitskräften gekommen. Ein Mensch wurde getötet, 18 weitere verletzt.
Die Regierung musste eingreifen, von ihrem bisher weichen Kurs gegenüber den radikalen gewaltbereiten Islamisten abweichen. Regierungschef Ali Larayedh versprach, mit Härte gegen die Islamisten vorzugehen: "Ansar al-Scharia ist eine illegale Organisation, die den Staat herausfordert und provoziert", sagte er als Reaktion auf die Auseinandersetzungen. "Wer nachweislich das Gesetz gebrochen hat, wird verfolgt." 200 mutmaßliche Extremisten wurden festgenommen.
Die Zeit läuft davon
Für die säkulare Opposition um Lobna Jribi war dieses harte Vorgehen ein bedeutender Schritt: "Es ist sehr wichtig und sehr positiv, dass der Staat und die Sicherheitsorgane bei den aktuellen Ereignissen ihrer Rolle nachgekommen sind, und sich konsequent gezeigt haben. Dadurch haben die staatlichen Organe, Polizei und Sicherheitskräfte, an Vertrauen gewonnen, sich handlungsfähig und neutral gezeigt."
Der aktuelle dritte Verfassungsentwurf soll im Juli 2013 durch das Plenum genehmigt werden. Derweil wächst im Land die Ungeduld mit der verfassungsgebenden Versammlung. Keines der sozialen Probleme, welche am Anfang der tunesischen Revolution standen, wurde angegangen - die offizielle Arbeitslosenzahl liegt bei 17 Prozent, doch kaum ein junger Mensch hat in Tunesien zur Zeit Chancen auf einen regulären Arbeitsplatz. "Wir riskieren, dass sich unsere Gesellschaft insgesamt von der Politik abwendet", befürchten Aktivisten wie die Islamwissenschaftlerin Amel Grani. Das aber wäre die größte Bürde für den Start in ein demokratisches Tunesien.
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