Truppenabzug - koste es, was es wolle?
6. September 2019Welche Geschenke dürfen US-Soldaten von afghanischen Dorfältesten annehmen? Wie müssen Gefangene behandelt werden? Auf wen darf im Kampf geschossen werden, und mit welchen Waffen? Die Beantwortung solcher Fragen war der Job von Lindsay L. Rodman, die mit den US-Marines von September 2010 bis März 2011 in Afghanistan stationiert war. Als Rechtsberaterin, oder "judge advocate", klärte sie für ihre Truppe, die in den südwestlichen Provinzen Helmand und Nimrus im Einsatz war, rechtliche Fragen aller Art.
In einer Stadt sorgten Rodman und ihre Kollegen für Frieden und bauten ein verhältnismäßig stabiles Gesundheitsversorgungssystem auf. Doch einige Jahre nach ihrem Aufenthalt war davon nichts mehr übrig. Der Krieg hatte sich die Stadt zurückgeholt. "Mit das Härteste für uns Militärangehörige ist es, zu sehen, wie einige Landesteile wieder in einen schlimmeren Zustand zurückfallen", sagte Rodman im DW-Gespräch. "Ich will damit nicht sagen, dass es die Mühe nicht wert war. Aber es ist schwer mitanzusehen, wie die harte Arbeit, die wir geleistet haben, wieder zunichte gemacht wird."
Zum geplanten Abzug von 5000 US-Soldaten aus Afghanistan möchte sich Rodman nicht äußern. Sie ist die Sprecherin der Organisation "Iraq and Afghanistan Veterans of America" (IAVA) und betont, dass die IAVA alle Mitglieder mit ihren verschiedenen Meinungen vertritt. Aber Kritiker des geplanten Abzugs sind besorgt, dass er genau die Folgen haben wird, die Rodman beschreibt: Ein erneutes Abgleiten Afghanistans in Chaos und Gewalt.
Wie verlässlich ist das Wort der Taliban?
Marvin Weinbaum, Afghanistan-Experte der Denkfabrik Middle East Institute, kritisiert, dass die US-Regierung Truppen nach einem strikten Zeitplan aus dem Land abziehen will, koste es, was es wolle. "Wir haben immer gesagt, ein Abzug sei abhängig von der Sicherheitssituation im Land. Aber wenn er situationsabhängig ist, wie kann es dann einen genau getakteten Zeitplan geben?", fragt er.
Mit dem Zeitplan bezieht sich Weinbaum auf ein vorläufiges Abkommen zwischen der US-Regierung und den Taliban, dass der US-amerikanische Sonderbeauftragte für Afghanistan, Zalmay Khalilzad, Anfang September vorstellte. Das Abkommen, welches nur noch von US-Präsident Donald Trump bestätigt werden muss, sieht vor, dass die USA rund 5000 ihrer 14.000 Soldaten im Land innerhalb von 135 Tagen abziehen. Im Gegenzug sollen die Taliban Terrororganisationen wie Al-Kaida keinen sicheren Rückzugsort in Afghanistan mehr bieten und ihre eigenen Angriffe verringern.
Doch am selben Tag, an dem Khalilzad das Dokument der Öffentlichkeit präsentierte, verübten die Taliban in der afghanischen Hauptstadt Kabul einen Anschlag mit einer Autobombe, bei dem mindestens 16 Menschen getötet wurden. "Wir müssen uns in gutem Glauben auf ihr Wort [das der Taliban] verlassen", beklagt Weinbaum. Ein Truppenabzug wie die USA ihn plane sei dagegen eine handfeste Aktion, die nur schwer wieder rückgängig zu machen sei.
Abzug als Wahlkampfstrategie für Trump
Eine Gruppe von neun US-Diplomaten, unter ihnen mehrere ehemalige US-Botschafter in Afghanistan, haben ihre Kritik an dem Abkommen in einem offenen Brief kundgetan, den die Denkfabrik Atlantic Council auf ihrer Website veröffentlichte. "Wir dürfen unseren afghanischen Freunden nicht so viel Unterstützung entziehen, dass sie sich nicht mehr selbst schützen oder eine repräsentative Demokratie aufbauen können", heißt es in dem Schreiben.
Die Gruppe kritisiert außerdem, dass die USA den Truppenabzug ausschließlich mit den Taliban verhandelt haben, und nicht mit der afghanischen Regierung: "Wir sollten Afghanistans rechtmäßige Regierung nicht untergraben, indem wir sie von den Verhandlungen ausschließen."
US-Präsident Donald Trump soll seinen Beratern gegenüber gesagt haben, dass er alle US-Truppen noch vor der US-Präsidentschaftswahl im November 2020 aus Afghanistan abziehen möchte. Öffentlich spricht der Präsident davon, rund die Hälfte aller Truppen bald aus Afghanistan abziehen zu wollen. Experten halten solch schnelle Aktionen für gefährlich und fürchten, ein übereilter Abzug könne zu einem Bürgerkrieg im Land führen.
"Ich glaube, die US-Regierung ist so verzweifelt auf der Suche nach einem Weg raus [aus Afghanistan], dass sie nicht sehen, wie viel schwieriger die Situation noch werden könnte", sagt Weinbaum. "Ich glaube, dass diese Regierung auf eine Karte setzt: 'Falls in Afghanistan alles den Bach runtergeht, bitte lass es nach der Wahl passieren!'"