Trotz Corona: New York schläft nicht
11. April 2020Die Apokalypse präsentiert sich im New Yorker Stadtteil Queens in strahlendem Sonnenschein. Einmal am Tag wage ich einen Spaziergang. Denn derzeit ist es ein Risiko, das Haus zu verlassen. Die Infektionsrate in meiner Nachbarschaft ist eine der höchsten in ganz New York City. Aufgewacht bin ich zu besorgten Nachrichten meiner Freunde und Familie aus Deutschland, und in den Morgennachrichten fiel mehrmals der Begriff "Epizentrum des Virus".
Als ich das Haus verlasse, erwarte ich Chaos, mindestens brennende Mülleimer. Aber es ist ruhig und warm, die Bäume blühen und weil weniger Autos unterwegs sind als sonst, kann ich die Vögel singen hören. Meine Nachbarn grillen im Vorgarten und spielen laute Musik. Sie teilen sich ihr Apartment mit drei Generationen, da nutzen sie jede Chance, um rauszukommen.
Die Fotos vom leeren Times Square und der ausgestorbenen Fifth Avenue gehen um die Welt. Doch die liegen in Manhattan, und Manhattan ist für New York nicht repräsentativ. Social Distancing im Stadtteil Queens sieht anders aus. Auch hier gibt es leere Straßenzüge und heruntergelassene Rollläden, aber in einigen Ecken tobt noch immer das Leben.
New York City ist nicht nur Manhattan
In Manhattan leben rund 1,6 Millionen Menschen. Alleine in Brooklyn sind es mit 2,5 Millionen deutlich mehr, wenn auch auf einer größeren Fläche. Auch Queens liegt noch vor Manhattan mit 2,2 Millionen Einwohnern, hinzu kommen 1,9 Millionen Menschen in der Bronx und Staten Island. Demografie und Lebensstandard sind in allen New Yorker Stadtbezirken sehr unterschiedlich.
Etwa 18 Prozent der New Yorker leben unterhalb der Armutsgrenze. Der Durchschnitt für Manhattan sind 16 Prozent. In der Bronx sind es 28 Prozent. In einzelnen Nachbarschaften ist der Anteil sogar noch größer. In Brownsville, Brooklyn, leben 40 Prozent unterhalb der Armutsgrenze. Mehr als 70 Prozent der Einwohner dort sind Afroamerikaner. Zum Vergleich: Auf der wohlhabenden Upper East Side in Manhattan liegt die Armutsquote bei sechs Prozent, dort sind 1,4 Prozent der Einwohner schwarz, 75 Prozent weiß.
Die Infektionsraten in der Bronx, Brooklyn und Queens sind ungleich höher als die in Manhattan. Die Epidemie macht die Kluft zwischen arm und reich noch größer. Im New Yorker Subway sind Menschen unterwegs, die es sich nicht leisten können, ihr Leben einfach einige Wochen auf Pause zu stellen. Sie haben oft keine Krankenversicherung und Jobs, die sie nicht von zu Hause aus erledigen können.
Zudem bestimmt oft die Hautfarbe, wer arm und wer reich ist und in der Folge, wer gesund bleibt und wer sich ansteckt. Das Coronavirus infiziert und tötet Afroamerikaner in den Vereinigten Staaten unverhältnismäßig oft, schreibt die "New York Times", das zeigten die Daten mehrerer Bundesstaaten und Großstädte.
Queens: Laute Musik und Atemschutzmasken
Dass Home Office ein Luxus für Weiße und Wohlhabende ist, lässt sich auch in Queens spüren. Die Baustelle in meiner Straße läuft fünf Tage pro Woche auf Hochbetrieb. Auch heute sind wieder viele Menschen unterwegs und Geschäfte geöffnet.
Aus einem Billigmarkt auf der Cypress Avenue dröhnt laute Musik und Neonröhren blinken in den Schaufenstern. Eigentlich dürfen nur Supermärkte, Drogerien und Apotheken geöffnet sein, aber hier gibt es Socken, Regenschirme und andere Konsumgüter - und es ist voll. "Wir haben Gesichtsmasken" steht auf einem Schild am Eingang. Dort tanzt ein Mitarbeiter, der die Zahl der Kunden im Blick behalten soll. An seinen Augenfalten kann ich sehen, dass er unter seiner Atemschutzmaske lacht. Vielleicht ist er einfach froh, dass er seinen Job noch nicht verloren hat wie Millionen anderer New Yorker. Es sind so viele, dass die Website, auf der sie Arbeitslosenhilfe beantragen, ständig zusammenbricht.
Ich will im Supermarkt ein Päckchen Kaffee und frisches Obst besorgen, als ein Mädchen mich anspricht und fragt, ob ich ihr und ihrer Schwester zwei Cheeseburger nebenan bei McDonalds kaufen kann. Sie trägt weder Handschuhe noch eine Gesichtsmaske. Ich kaufe ihr statt der Cheeseburger eine Atemschutzmaske und gebe ihr Bargeld. Die Vorstellung, bei McDonalds anzustehen, ist wenig verlockend.
Die Sonne steht nun tief und bunte Fähnchen flattern vor einem Möbelgeschäft im Wind. Würde New York City nicht von diesem Virus gebeutelt, wäre es ein herrlicher Frühlingstag. Es ist warm und einige der Menschen, die vorm Liberty Department Store in der Schlange stehen, haben ihre Jacken um die Hüfte gebunden. Ich schwitze unter meiner Atemschutzmaske. Die Schlange vor dem Kaufhaus zieht sich bis zur Straßenecke. Menschen wollen offenbar gerade jetzt eine Regaleinheit oder Bluetooth-Lautsprecher kaufen.
An der Cypress Avenue sind zwischen vielen geschlossenen Läden immer wieder einzelne Geschäfte geöffnet. Restaurants dürfen noch Essen zubereiten, entweder zur Abholung oder zur Lieferung. Kleine Apotheken sind offen, mit strikten Anweisungen, dass nur jeweils eine Person eintreten darf. Eine Apothekerin hat sich hinter einer Plastikplane verschanzt. Atemmasken hätte sie noch genug, sagt sie auf meine Nachfrage.
Das Viertel wird sich für immer verändern
Ich laufe vorbei an der kleinen Patisserie, in der ich im vergangenen Sommer so gerne Erdbeerkuchen gegessen habe, und an dem Café, in dem ich manchmal sitze und schreibe. Dann kommt der kleine Baumarkt, in dem es meinen Rohrreiniger gibt, und die Deli, in der ich morgens Bagels und Filterkaffee kaufe. Ich befürchte, dass einige dieser Läden nie wieder öffnen - zu groß ist der wirtschaftliche Schaden. Das wird Jobs kosten und noch mehr Armut bringen.
Eine Postbotin schiebt einen Wagen voller Briefe vor sich her. An einem Maschendrahtzaun wartet ein alter Mann. Noch bevor sie ihm seine Post gibt, streckt er den Daumen hoch. Es wirkt wie ein kleiner Dank. Vielleicht will er ihr aber auch nur sagen, dass sie die zwei Meter Sicherheitsabstand einhalten soll.
Eine Joggerin ohne Atemschutzmaske kommt mir entgegen. Als sie mich sieht, zieht sie ihr Halstuch über Mund und Nase. Ich bleibe stehen, damit sie in sicherem Abstand an mir vorbeilaufen kann. Es berührt mich, dass wir uns gegenseitig schützen wollen. Voreinander.
Vieles ist anders im Viertel, in der ganzen Stadt, seit Ausbruch der Corona-Pandemie - und vieles lief hier vorher schon falsch. Ich hoffe, dass wir einiges besser machen können, wenn die Kurve der Neuansteckungen abflacht, wenn die Krankenhäuser nicht mehr überfüllt und die Betten und Beatmungsgeräte nicht mehr zu knapp sind. Wenn keine Kühlwagen mit Leichen mehr vor Krankenhäusern stehen.
Die Pandemie entblößt den katastrophalen Zustand des Gesundheitssystems. Bildung muss erschwinglicher werden, sodass mehr Menschen besser bezahlte Jobs finden und sich eine Krankenversicherung leisten können, ohne hoch verschuldet zu sein. Um es mit den Worten von New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo zu sagen: "Dies ist ein Moment, der diese Nation verändern wird." Und einer, der sie auch verändern muss, schießt es mir durch den Kopf.
Bevor ich in meine Straße einbiegen will, sehe ich, dass das Blumengeschäft geöffnet hat. Der Blumenhändler fragt, ob ich nicht einen Strauß kaufen will. Es kommt mir absurd vor, jetzt Geld für Rosen auszugeben - aber es ist fraglich, ob es den kleinen Laden mit den Plastikblumen am Eingang in einigen Monaten überhaupt noch geben wird. Ich werde ein bisschen wehmütig und kaufe ihm einen Strauß ab. Mit Blumen im Arm und Atemschutzmaske auf dem Gesicht laufe ich nach Hause.