Andris Nelsons in Tanglewood
17. Juli 2014Boston oder Berlin? Oder doch beides zusammen? Die Frage geht Andris Nelsons im Gespräch mit der Deutschen Welle nicht mehr aus dem Kopf: Mit der Berufung zum neuen Chefidirgenten des Boston Symphony Orchestra (BSO) könnten seine Chancen auf die Nachfolge von Simon Rattle als künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker dramatisch gesunken sein.
Selbst im entlegenen Tanglewood - der legendenumwobenen ländlichen Sommerresidenz des Boston Symphony Orchestra im US-Bundesstaat Massachusetts - ist Berlin gar nicht so weit weg. Zumindest nicht im Kopf von Andris Nelsons, der dort noch am Vorabend ein vielumjubeltes Konzert mit Werken von Richard Strauss, Sergei Rachmaninow und Maurice Ravel dirigierte. "Ich habe nie im meinem Leben Karriere-Kalkulationen angestellt", sagt er.
Die Magie von Tanglewood
Denn so wie sich jetzt das Boston Symphony Orchestra glücklich schätzen darf, den Senkrechtstarter aus Lettland erstmals für ein dauerhaftes Engagement nach Amerika geholt zu haben, so sind ihm auch die anderen Jobs zugeflogen. Er dirigiert weltweit bei allen wichtigen Orchestern und Festivals, vor allem im deutschsprachigen Raum, darunter in Salzburg und Bayreuth und bei den Wiener und Berliner Philharmonikern. Seit 2008 hat er als Nachfolger von Sir Simon Rattle auch die die Chefposition beim Birmingham Symphony Orchestra inne.
Jetzt also Boston. Und bereits vor seiner ersten offiziellen Saison beim wohl europäischsten aller amerikanischen Toporchester dirigiert er Konzerte an jenem magischen Ort, an dem schon Serge Kussewitzky, Leonard Bernstein oder Seiji Ozawa ihre Spuren hinterlassen haben. Auch der gerade verstorbene Lorin Maazel dirigierte hier im Sommer des Jahres 1951 auf Einladung von Koussevitzky. "Tanglewood ist das wichtigste Musikfestival in den USA", sagt Nelsons.
Auf jeden Fall ist es das traditionsreichste und schönste, vor allem wenn die Sonne strahlend scheint. Umgeben ist die Spielstätte von einer spektakulären Landschaft aus tief grünen Grasweiden und harmonisch gewundenen Hügelzügen des Berkshire. Eine Landschaft, die schon Schriftsteller wie Herman Melville, den Autor des Romans "Moby Dick", in ihren Bann zog. Acht Wochen lang treffen sich im Sommer die Musiker des BSO zu Konzerten und zum Unterricht für die Studenten der orchestereigenen Musikakademie.
Im Publikum finden sich vor allem alte Bekannte aus dem gut zweieinhalb Autostunden entfernten Boston und aus New York: jene wohlhabenden und enthusiastischen Unterstützer, die sich im malerischen Berkshire prachtvolle Zweitwohnsitze leisten können. Sie alle sind erleichtert, dass es dem durch die Krankheit des letzten Chefidirgenten James Levine gehandicapten Orchester gelungen ist, mit Nelsons einen attraktiven Dirigenten zu verpflichten, der in den USA und international einen hohen Marktwert hat.
Das Orchester als Ferrari
Nelsons seinerseits begnügt sich nicht mit dem Erreichten, er will ein jüngeres, internationaleres Publikum gewinnen, in Boston und Tanglewood gleichermaßen. Und er will das BSO auf Tourneen führen, das Orchester an den wichtigen Klassikplätzen der Welt "wie einen Ferrari vorzeigen", sagt er mit einem jungenhaften Lächeln. Im nächsten Jahr steht eine Europatournee an, darunter auch Konzert in Berlin und anderen deutschen Städten.
Viele der großen und kleineren Orchester in den USA kämpfen mit finanziellen Engpässen und Publikumsschwund. Mark Volpe, der agile Manager des BPO, sieht sein Orchester zwar jetzt noch als das "bestbudgetierte Symphonieorchester der Welt" mit dem größten Publikumsaufkommen überhaupt. Doch Andris Nelsons ist für ihn ein wichtiger Verbündeter, wenn es um die Zukunftssicherung geht. Mit ihm lassen sich neue Vertriebswege erobern – neben den "alten" Medien wie CD oder Radio ist man beispielsweise mit Amazon und Google im Gespräch. Es geht um neue Einnahmequellen und darum, ein junges Publikum anzusprechen.
Erste Annäherungen
Bei den Konzerten in Tanglewood spürt man ganz intensiv, wie sich Nelsons und die Musiker gerade einander annähern, sich und den jeweils anderen ausloten und wie weit man miteinander bei den Aufführungen schon gehen kann. Ravels Bolero lässt da noch Entwicklungspotential erkennen, ebenso wie Richard Strauss Rosenkavalier-Auszüge mit einer souveränen Angela Denoke als Marschallin.
So wie es aussieht kann die Verbindung Nelsons mit Boston eine glückliche werden. Der 36-Jährige ist unprätentiös und nimmt sich als Dirigent zumindest rhetorisch zurück, wenn er sagt, dass er da vorne "nicht stören" will und sich als Teil eines Teams sieht. Gleichwohl scheint er jede Nuance der Musik in seinem Dirigat vorzuzeichnen und den Sound mit schlangenhaften Bewegungen gleichsam aus den Körpern seiner Musiker zu ziehen.
Berlin neben Boston?
Nelsons mag sein neues Orchester. Am BSO schätzt er den "cremigen" Ensemble-Klang, in dem die verschiedenen Instrumentengruppen gekonnt miteinander verschmelzen. Und dann kommt er noch einmal auf die Berliner Philharmoniker zu sprechen. Die Musiker darin seien alle Solisten und hätten diesen dunklen, intensiven Sound, der mit der deutschen Tradition zusammenhänge. Nelsons kräftiger Baritonstimme entfährt dabei spontan ein tief grundierter Laut, der auf eine emotionale Affinität schließen lässt. Nach einer längeren Gedankenpause erklärt er dann, dass sich die Frage Boston oder Berlin für ihn jetzt nicht gestellt habe, da die Nachfolge von Simon Rattle erst in den nächsten Jahren geklärt werde. Doch er will nichts ausschließen. Zwei Orchester auf zwei Kontinenten, warum nicht?