Trauriger Geburtstag
10. März 2002Tonne oder Tresor: Für viele Anleger, die sich am Neuen Markt engagiert haben, ist diese Frage längst entschieden: Sie rühren Aktien dieses Börsensegments nicht mal mehr mit spitzen Fingern an. Am 10. März jährt sich in Frankfurt die Gründung des Neuen Marktes zum fünften Mal - zum Feiern ist jedoch kaum jemandem zumute. Gegründet als Börsensegment für junge, vielversprechende Unternehmen aus so genannten Zukunftsbranchen wie Telekommunikation, Internet oder Biotechnologie, löste der Neue Markt in den ersten drei Jahren einen wahren Goldrausch aus. Doch seit zwei Jahren herrscht Katzenjammer, der Ruf ist runiert.
Gier frisst Hirn
Franz-Josef Leven vom Deutschen Aktieninstitut, einer Lobby zur Förderung des Aktienbesitzes, bringt die Misere auf diese Formel: "Gier frisst Hirn - das ist eine alte Weisheit, und die trifft leider auch auf manche Erscheinung am Neuen Markt zu." Einen Vorwurf könne man jedoch niemand machen. Wenn die Kurse jahrelang nur stiegen und in einigen Bereichen explodierten, wolle einfach jeder dabei sein, betont Leven. "Dabei gerät dann leider manchmal aus dem Blick, dass große Steigerungen von 50, 60, 70 Prozent pro Jahr mal eine kurze Zeit möglich sind, aber auf Dauer nicht durchgehalten werden können."
In Zahlen ausgedrückt, liest sich der Boom so: 1997 startete der Neue Markt mit gerade einmal vier bösennotierten Unternehmen, am Ende des Jahres waren es elf. Der Kurswert ihrer Aktien belief sich auf knapp vier Milliarden Euro. Zwei Jahre später waren es schon 70 Unternehmen mit einem Kurswert von rund 37 Milliarden Euro. In den ersten beiden Jahren stiegen die Kurse um rund 500 Prozent. Im Frühjahr 2000 erreichten die Kurse ihre Höchststände, der Kurswert der über 300 gelisteten Unternehmen belief sich auf eine Viertelbillion Euro (250 Milliarden Euro). Doch eine Kursexplosion um 1.550 Prozent geht selten gut.
"Story" statt Substanz
Während einige Anleger reich geworden sind, haben viele bis zu 90 Prozent ihrer Investitionen verloren. Der Auswahlindex Nemax 50 sackte von 9.600 Punkten im Frühjahr 2000 auf 900 Punkte - über 175 Milliarden Euro mussten die Anleger inzwischen abschreiben. Ursachen für Aufstieg und Fall sind inzwischen bestens bekannt. Als Gegenstück zur US-Wachstumsbörse Nasdaq gegründet, sollten junge Firmen der New Economy die Chance haben, sich schnell mit Kapital zu versorgen. Nicht Umsatz oder Gewinn waren entscheidend, sondern eine vermeintlich überzeugende "Story". Jede vage Geschäftsidee versprach zur Goldgrube zu werden und lockte Anleger an, die von amerikanischen Vorbildern träumten: Von der Garage zum milliardenschweren Weltkonzern.
Die Hausse nährt die Hausse, lautet eine Börsenweisheit. Die bewahrheitete sich auch - zumindest in den ersten drei Jahren, bis das Märchen von der Goldgrube Neuer Markt auch die Boulevardpresse und die Stammtische erreichte. Das Wort "Risiko" war verboten, und wer es trotzdem in den Mund nahm, bekam zur Antwort: "Wenn Du eine Garantie willst, musst Du einen Toaster kaufen."
Kritik an Banken
Inzwischen ist Ernüchterung eingekehrt. Viele Beschwerden richten sich gegen die Banken. Denn sie haben den Börsengang der jungen Unternehmen begleitet und dabei gute Provisionen verdient. Allein im Jahr 2000 kamen 133 neue Unternehmen an die Börse - fast jeden zweiten Börsentag eine Neuemission. Die Banken hätten die Kandidaten zu unkritisch geprüft, lautet ein Vorwurf. Dem widerspricht Aktienexperte Leven: "Die Banken haben zunächst einmal die Nachfrage seitens des Publikums befriedigt, und eine Zeit lang konnten die Banken ja gar nicht genug Aktien herbei schaffen, so viele wollten die Anleger haben." Außerdem hätten alle Börsenaspiranten die gesetzlich vorgeschriebenen Prüfungen durchlaufen. "Niemand hat die Anleger gezwungen, all diese Aktien zu kaufen", fügt Leven hinzu.
Dennoch: Die mangelnde Professionalität vieler Manager hat das Vertrauen der Anleger in die Werte der New Economy nachhaltig erschüttert. Falsche Firmennachrichten, überzogene Prognosen, ausbleibende Gewinne waren an der Tagesordnung. Pleiten und Betrugsvorwürfe beschäftigen jetzt die deutschen Gerichte. Auch die überzogenen Prognosen der Analysten haben letztlich dem Ruf der Banken und der Aktie als einem Element der Vermögensbildung geschadet.
Leven zufolge ist der Niedergang der Kurse am Neuen Markt genauso eine Übertreibung nach unten wie der Goldrausch im Frühjahr 2000 eine Übertreibung nach oben war: Auch gute Werte mit Substanz seien gnadenlos in Sippenhaft genommen worden. Den Anlegern riet Leven bereits vor einem Jahr, nach den Perlen im Markt zu fischen: "Wir haben gesehen, dass alles undifferenziert an Aktien gekauft wurde. Heute wird genauso undifferenziert fast alles an Aktien verkauft", betont der Experte und empfiehlt stattdessen ein Einzelanalyse jeder Aktie.
Lange Konsolidierungsphase
Langfristig sieht Leven Licht am Ende des Tunnels: Bei den soliden Werten am Neuen Markt seien durchaus wieder moderate Kurssteigerungen möglich. Nur wann, ist offen. Denn der "Salami-Crash" über zwei Jahre hat viele Anleger zum Abwarten auf bessere Zeiten bewogen, bis ein Verkauf ihrer wertlosen Aktien nicht einmal mehr die Transaktionsgebühren für die Banken einbrachte. Heute haben sie kein Geld mehr zu investieren, selbst wenn sie glauben, vermeintliche Perlen im Sumpf gefunden zu haben. Deshalb sind viele Experten der Ansicht, dass eine Renaissance des Neuen Marktes nach der derzeitigen Konsolidierungsphase wohl noch bis zu fünf Jahre dauern könnte.