Trauer um Regisseur Christoph Schlingensief
22. August 2010Christoph Schlingensief hat die deutschsprachige Film- und Theaterwelt gleichermaßen irritiert und beflügelt - so wie kaum ein anderer. Das "Enfant terrible" der deutschen Kulturszene wurde zum Aushängeschild für provokante Theater- und Opern-Inszenierungen. Auch im Ausland war er einer der bekanntesten deutschen Künstler. Der Regisseur starb am Samstag mit 49 Jahren im Kreis seiner Familie in Berlin an einem Krebsleiden.
"Als ob das Leben selbst gestorben wäre"
"Einer der größten Künstler, der je gelebt hat" - beschrieb die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek den Regisseur. So einen wie ihn könne es nicht mehr geben, teilte die Autorin der österreichischen Nachrichtenagentur APA mit. Sie bescheinigte dem Künstler eine unglaubliche Kraft, mit der er Menschen um sich geschart habe. Diese seien wie von einer umgekehrten Fliehkraft buchstäblich an ihn herangerissen worden, so Jelinek. "Ich dachte immer, so jemand kann nicht sterben. Das ist, als ob das Leben selbst gestorben wäre." Schlingensief hatte die Uraufführung von Jelineks Stück "Bambiland" im Jahr 2003 am Wiener Burgtheater inszeniert.
Kulturstaatsminister Bernd Neumann würdigte den Verstorbenen als einen der vielseitigsten und innovativsten Künstler der Kulturszene. Schlingensief habe die deutsprachige Film- und Theaterwelt stark beeinflusst, sagte Neumann. "Zu seinen Stilmitteln gehörte nicht selten die Provokation, mit der er ganz bewusst auch über den Kulturbereich hinaus Kontroversen auslösen und irritieren wollte." Schlingensief habe auch den Respekt seiner Kritiker für sein Schaffen und seine Kreativität gehabt.
Die Bayreuther Festspielleiterin Katharina Wagner sagte, sie sei "tief erschüttert, schockiert und traurig". Berlinale-Direktor Dieter Kosslick nannte Schlingensief einen großen Filmemacher und politischen Künstler. Schlingensief habe im wahrsten Sinne gemacht, was er wollte. Er sei ein Mensch gewesen, der sich aus einer tiefen moralischen Überzeugung heraus über Ungerechtigkeiten aufgeregt habe.
Künstler von "ungeheurer Sprengkraft"
Als "großartigen Wachrüttler" beschrieb der Theatermacher Frank Baumbauer Schlingensief. "Mit seinen neuen Theaterformen und veränderten Wertigkeiten hat er uns durch seine Verhaftungen in der Wirklichkeit wieder und wieder aus unseren netten Nestern herausgeworfen. Er hat wirklich Großartiges gemacht und etwas bedeutet - ob in Hamburg, in Berlin, in Bayreuth, in Wien oder in Afrika", sagte Baumbauer, der Intendant unter anderem der Münchner Kammerspiele war.
Der Präsident der Berliner Akademie der Künstler, Klaus Staeck, schrieb in einem Nachruf, mit Schlingensief sei ein Künstler gestorben, der "von ungeheurer Sprengkraft, künstlerisch wie politisch" gewesen sei. "In allen seinen Arbeiten, angefangen von den ersten filmischen Versuchen bis hin zu seinen großartigen Opern-Inszenierungen, ging es ihm um die Auslotung des Verhältnisses von Politik, Kunst und Gesellschaft." Er habe es "immer wieder geschafft, sich einzumischen und künstlerisch wie politisch Position zu beziehen". Die Berliner Akademie der Künste hatte erst vor kurzem das Archiv Schlingensiefs übernommen.
Die Grünen-Bundesvorsitzende Claudia Roth sagte, der Tod Schlingensiefs habe sie bis ins Mark erschüttert. "Dieser verdammte Krebs! Mit Christoph Schlingensief verliert die Bundesrepublik einen der kreativsten, vielseitigsten und radikalsten Künstler." Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit erklärte: "Ein großer Theatermann verlässt die Bühne."
Bis zuletzt bei der Arbeit
Schlingensief war seit Anfang 2008 an Lungenkrebs erkrankt. Darüber erstattete er in seinem bewegenden "Tagebuch einer Krebserkrankung" Bericht. Trotz der Erkrankung setzte er seine Arbeit weiter fort und zog sich erst vor kurzem zurück.
Seine Inszenierungen, Filme und Aktionen waren wegen ihrer politischen und künstlerischen Radikalität oft sehr umstritten. Zuletzt hatte Schlingensiefs Berufung zur künstlerischen Gestaltung des deutschen Pavillons bei der Biennale in Venedig 2011 für Aufsehen gesorgt. Er selbst sprach von " einer Überraschung, einer Freude, aber auch einer schweren Last". An der Pressekonferenz zur Vorstellung seiner Pläne Anfang Juli hatte er krankheitsbedingt nicht mehr teilnehmen können.
Autorin: Ursula Kissel (dpa, apn)
Redaktion: Stephan Stickelmann