Tour d'Allemagne
28. Juli 2014Am Ende war es Millimeterarbeit. In einem wie immer hektischen Finale, hatten seine Teamkollegen Marcel Kittel eingangs der Champs-Elysées perfekt abgeliefert, doch dann eröffneten seine Rivalen den Sprint sehr früh. Vor allem der zweifache norwegische Etappensieger Alexander Kristoff lancierte seinen Spurt unerwartet früh und hatte schon eine Radlänge Vorsprung auf Kittel, der dann aber seinen "Nachbrenner" zündete und zum Sieg raste, hauchdünn vor Kristoff. Nach der Zieldurchfahrt kehrte Kittel zurück zum Ort des Geschehens und küsste voller Freude den Zielstrich auf dem Asphalt.
"Supergeil! Ich bin unheimlich stolz", jubelte Marcel Kittel noch mit reichlich Adrenalin im Blut, "ich glaube, die deutschen Fans können zufrieden sein. Wenn man die deutschen Etappensiege sieht, war es die beste Tour bisher für Deutschland." Die Zahlen geben ihm Recht. Im Durchschnitt gewann jede dritte Etappe ein Deutscher. Sieben Etappensiege für Schwarz-Rot-Gold, das gab es zuvor noch nie in 100 Austragungen Tour de France (zum Vergleich: Gastgeber Frankreich konnte in diesem Jahr nur zwei französische Etappensiege feiern). Die 101. Große Schleife durch Frankreich stand nicht nur im Zeichen des überlegenen Siegers Vincenzo Nibali, sondern auch der deutschen Etappenjäger.
Hoffen auf mehr mediale Aufmerksamkeit
Sprintstar Marcel Kittel gewann nicht nur die prestigeträchtige Schlussetappe auf den Pariser Champs-Elysées, sondern wie im Vorjahr auch drei weitere Etappen. Seinem Konkurrenten André Greipel glückte ein Etappenerfolg in Reims. Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin zeigte im einzigen Einzelzeitfahren eine Demonstration seiner Macht in dieser Disziplin und holte sich zudem im strömenden Regen der Vogesen einen Solo-Sieg in Mulhouse. Dazu kamen zwei zweite Plätze von Kittels Teamkollegen John Degenkolb, die durchaus auch Siege hätten werden können. Zweimal gewann er den Sprint, zweimal lag aber ein Ausreißer knapp vor dem Feld und schnappte Degenkolb den Sieg weg.
"Mit etwas Glück hätten es sogar neun deutsche Etappensiege sein können", rechnete Degenkolb vor und hofft nun auf einen positiven Effekt der deutschen Erfolgsserie. "Ich denke schon, dass das eine Auswirkung haben wird. Wenn wir wieder eine Live-Übertragung in Deutschland haben, sieht es auch mit den Sponsoren besser aus und vielleicht gibt es dann auch wieder eine Deutschland-Tour", glaubt Degenkolb. Die Siege deutscher Fahrer sollen also über ihren sportlichen Wert hinaus wirken und endlich wieder die erhoffte Publizität in der Heimat bringen. 2007 war das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland wegen der zahlreichen Dopingskandale im Radsport aus der Live-Übertragung der Tour de France ausgestiegen und hatte seitdem seine Abstinenz auch mit mangelndem Zuschauerinteresse und fehlenden Identifikationsfiguren begründet.
Unterstützung von einem der schärfsten Kritiker
Angesichts von sechs deutschen Etappensiegen 2013 und deren sieben in diesem Jahr sowie zahlreichen deutschen Fans an der Strecke ist hier wohl eine neue Situation festzustellen. Der sportliche Erfolg ist da, das Interesse ebenfalls, nun hofft Tony Martin, "dass es im nächsten Jahr, wenn parallel keine Fußball-Weltmeisterschaft stattfindet, wieder einen größeren Rahmen geben wird. Mit unserer Performance können wir zufrieden sein. Ich hoffe, dass das in Deutschland ankommt." In der Tat sind Zeichen der Entspannung zwischen dem Radsport und den deutschen Medien erkennbar. Nach Jahren eines pauschalen Misstrauens gegenüber dem Radsport seitens vieler Medien, lobt ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky nun den "deutschen Nachwuchs" für seine Erfolge und "sein klares Bekenntnis zum sauberen Sport", das insbesondere Kittel, Martin und Degenkolb immer wieder öffentlich abgelegt haben. In den kommenden Wochen wollen ARD und ZDF darüber entscheiden, ob die Tour de France in Deutschland wieder live im Fernsehen gezeigt wird.
Unterstützung kommt ausgerechnet von einem der größten Kritiker des Radsports: Der irische Journalist David Walsh warf dem Radsport jahrelang vor, verseucht zu sein, war einer der ausdauerndsten Zweifler an Lance Armstrongs Legende und behielt am Ende auch Recht. Jetzt sieht er in den erfolgreichen deutschen Fahrern eine neue Generation, die Vertrauen verdient: "Ihre Haltung gegen Doping ist glaubhaft.“ International bekommen die deutschen Radstars, die allesamt für ausländische Teams starten, viel Aufmerksamkeit und Anerkennung. So auch Altmeister Jens Voigt, der im Alter von 42 Jahren seine 17. und letze Tour de France beendete, wie man es von ihm erwartete: mit einer Attacke auf den Champs-Elysées. Längst ist er eine Kultfigur in seinem Sport und den sozialen Netzwerken und macht nun die Bühne frei für die nächste Generation.
2015 wieder mit einem deutschen Sponsor
Die darf sich zumindest wieder über deutsche Arbeitsplätze im Profi-Peloton freuen: Das Küchentechnikunternehmen Bora aus Oberbayern kündigte während der Tour an, dass es neuer Hauptsponsor des Teams NetApp-Endura wird. Seit dem Ausstieg von Milram 2010 ist dies ein Meilenstein für den krisengeschüttelten deutschen Radsport. Auch deshalb ist beim Bund Deutscher Radfahrer (BDR) ein neues Selbstbewusstsein spürbar: "Der Radsport in Deutschland ist auf dem richtigen Weg. Unsere Sportler sind nicht nur erfolgreich, sondern auch glaubwürdig", meinte BDR-Präsident Rudolf Scharping, der selbst oft kein glückliches Händchen beim bewältigen der Doping-Krise zeigte. Die deutschen Athleten tun da schon mehr: erfolgreich, gemessen an den Dopingkontrollen sauber und so transparent wie möglich - eine neue Generation will nach den Tour-Etappen nun auch das Vertrauen gewinnen.