Explosionen in Wahllokalen in Kabul
20. Oktober 2018Die Parlamentswahlen in Afghanistan bestätigten die Befürchtungen vieler Afghanen. Verzögerungen, Anschläge und Chaos dominieren das Bild. Nasim Khan, ein junger Wähler aus Kabul, sagte der DW: "Wir hatten große Erwartungen an die Wahlen, und trotz der schlechten Sicherheitslage haben sich viele entschieden, wählen zu gehen. Aber bei all diesem Chaos, muss ich sagen, dass uns die Regierung und die Wahlkommission wohl im Stich gelassen haben."
Während der Parlamentswahl in Afghanistan sind mehrere Wahllokale in Kabul Ziele von Bombenanschlägen geworden. Dies berichteten Zeugen und ein Behördenvertreter in der Hauptstadt. Unter anderem flohen Wähler nach einer Explosion aus einer Schule, in der sie ihre Stimme abgeben wollten, wie ein AFP-Journalist berichtete. Die französische Nachrichtenagentur erfuhr zudem von weiteren Explosionen bei mehreren anderen Wahllokalen. Die genauen Umstände waren noch unklar. Nach Angaben eines Krankenhauses wurde ein Kind getötet. 30 Menschen seien verletzt worden.
Bei Angriffen der radikalislamischen Taliban kamen landesweit mindestens elf Menschen ums Leben, viele wurden verletzt. Agenturen berichten von mehr als 30 Zwischenfällen. Aus verschiedenen Provinzen gab es Berichte über Angriffe. Nach Angaben des Provinzrats Esmatullah Kurbani feuerten Taliban in der Provinz Tachar in mehreren Bezirken Mörsergranaten ab, um die Wahlen zu stören. In der Folge seien Wahlstationen geschlossen worden. Im Bezirk Ischkamisch sei ein Haus getroffen worden. Dabei seien ein Mensch getötet und weitere acht verletzt worden. Raketenangriffe wurden auch aus Kundus gemeldet. Die Taliban, die ein Drittel des Landes kontrollieren, haben zum Boykott der Abstimmung aufgerufen und mit Gewalt gedroht.
An manchen Wahllokalen zeigte sich ein chaotisches Bild. Zahlreiche Wähler gingen wieder nach Hause, weil Wahllokale auch mehr als zwei Stunden nach dem offiziellen Beginn der Parlamentswahl immer noch nicht geöffnet waren. Das berichteten lokale Medien und Parlamentskandidaten. Offenbar erschien auch das Wahlpersonal in manchen Stationen nicht. Offizieller Start der unter hohen Sicherheitsvorkehrungen stattfindenden Wahl war um 7 Uhr (04.30 MESZ).
Nach Angaben der Kandidatin für die Provinz Kabul, Mariam Suleimancheil, waren im Kabuler Stadtteil Dehsabs bei einem Wahllokal zwar die Wahlbeobachter pünktlich vor Ort, nicht aber das Wahlpersonal. Sie veröffentlichte über den Kurznachrichtendienst Twitter Bilder, die Wahlurnen auf dem Boden zeigten. "Niemand weiß, was mit dieser Wahlstation ist - totales Chaos", schrieb sie. Ähnliches berichtete die Kandidatin Saleha Soadat aus Westkabul. In jenen Wahlzentren, die geöffnet seien, würden die Geräte zur biometrischen Wählererfassung nicht funktionieren. Das bestätigte der DW auch eine Wahlbeobachterin in Kabul, die anonym bleiben wollte: "Nichts funktioniert. Die Systeme, die angeschafft wurden, funktionieren einfach nicht." Lokale Medien berichteten, Menschen würden vor mehreren Wahlstationen protestieren, während andere diese verärgert verließen.
Laut einer Sprecherin der Unabhängigen Wahlkommission (IEC), Schaima Surusch, waren technische Probleme Grund für die Verzögerungen. Die Kommission entschuldige sich dafür. Man arbeite mit Hochdruck daran, diese Probleme zu lösen. Erstmals werden bei Wahlen in Afghanistan biometrische Geräte zur Wählererfassung verwendet. Wähler müssen unter anderem Fingerabdrücke abgeben. Im Vorfeld der Wahl hatte es jedoch keinen Testlauf für die Geräte gegeben.
Neben den technischen Problemen seien auch viele Lehrer, die als Wahlpersonal eingeteilt waren, nicht in die Wahllokale gekommen, sagte Surusch. Die Taliban hatten am Mittwoch Lehrern und Schulleitern mit Gewalt gedroht, sollten sie ihre Schulen als Wahlbüros zur Verfügung stellen.
Angst um Wahlurnen
Aufgrund der massiven Probleme bei der Stimmabgabe erklärte die Wahlkommission die Wahlen teilweise zu verlängern. So schließen einige Wahllokale, anders als geplant, nicht um 16 Uhr Ortszeit (13:30 MEZ), sondern vier Stunden später. In anderen kann auch morgen gewählt werden. Aziz Ibrahim, stellvertretender Sprecher der Wahlkommission, sagte der DW: "Es gab einige Unregelmäßigkeiten. Deswegen hat die Wahlkommission entschieden, die Wahlen in den Wahllokalen, in denen es Probleme gab, zeitlich auszuweiten. Allerdings ist noch unklar, wie viele Wahlzentren morgen ihre Türen öffnen." Viele Beobachter äußern diesbezüglich Bedenken. Was passiert mit den Wahlurnen während der Nacht? Wie werden diese bewacht? Die Maßnahme könnte Wahlmanipulationen Tür und Tor öffnen und das ohnehin niedrige Vertrauen in die Wahlen weiter untergraben.
Sami Mahdi, ein bekannter ehemaliger Journalist, der für das Parlament kandidiert und sich gegenüber der DW vor den Wahlen zuversichtlich äußerte, sieht kritisch auf den Wahltag: "Was mir nach wie vor Hoffnung macht, ist die Entschlossenheit der Afghanen, die in großer Zahl zu den Wahllokalen gekommen sind. Aber das Missmanagement der Wahlkommission ist eine große Enttäuschung." Er teilte der DW auch mit, dass es Hinweise auf Manipulationen gebe, denen nun nachgegangen werden müsse.
Mit dem Gesamtergebnis wird aufgrund der komplizierten Auszählung frühestens in zwei Wochen gerechnet. Rund neun Millionen Wahlberechtigte waren aufgerufen, sich zwischen gut 2500 Kandidaten zu entscheiden, die sich um 249 Sitze im Parlament bewerben. Ein afghanischer Wahlbeobachter sagte der DW: "Es sei noch zu früh, um die Wahl insgesamt zu beurteilen." Aber er befürchtet schon heute, dass viele Kandidaten das Ergebnis nach dieser chaotischen Wahl anzweifeln werden.
Die Parlamentswahl wird mit mehr als drei Jahren Verspätung abgehalten. Die Wahl war aufgrund von Verzögerungen bei der Wahlrechtsreform immer wieder verschoben worden.
In der strategisch wichtigen Provinz Kandahar im Süden des Landes wurde die Wahl nach dem Anschlag auf den dortigen Polizeichef um eine Woche verschoben. Zunächst war eine landesweite Aussetzung befürchtet worden, die Wahlkommission sträubte sich aber dagegen. Sie fürchtete einen schweren Rückschlag für die Demokratisierung Afghanistans, das seit 17 Jahren unter Krieg leidet.
Die Parlamentswahl ist auch ein Probelauf für die im April geplante Präsidentenwahl und ein Test, ob die vom Westen gestützte Regierung in Kabul die Sicherheit gewährleisten kann. Tausende Polizisten und Soldaten sind im ganzen Land im Einsatz. Aus Sicherheitsgründen sollten nur 5100 der ursprünglich geplanten 7355 Wahllokale geöffnet werden.
Die Vereinten Nationen haben sich besorgt gezeigt über Drohungen der Taliban, Schulen und andere als Wahllokale genutzte Gebäude anzugreifen. Die Extremisten hatten erklärt, die Wahl sei dem Land von außen aufgezwungen worden und widerspreche dem Islam sowie der afghanischen Kultur.
stu/sam (afp, dpa, rtr)