Gestorben an Unterkühlung und Erschöpfung
20. September 2021Am Montagmorgen traf sich Polens Premier Mateusz Morawiecki mit Vertretern des polnischen Grenzschutzes, um sich ein Bild von den Umständen des Dramas zu machen, das sich am vergangenen Wochenende an der polnisch-belarussischen Grenze ereignet hatte: Drei Männer starben im Grenzgebiet Polens zu Belarus - Flüchtlinge, die vermutlich über die belarussische Hauptstadt Minsk gekommen waren. Damit hat die Migrationskrise an der EU-Ostgrenze den ersten Menschen das Leben gekostet.
Vor Ort bleibt vieles zu klären. "Wir kennen die Identität dieser Menschen nicht, wir wissen nicht, wer sie waren, aber wir werden alles tun, damit sie nicht anonym bleiben", versprach Morawiecki nach dem Treffen. Die Menschen seien an Unterkühlung und Erschöpfung gestorben, so Polens Premier weiter. Bislang gibt es nur wenige weitere Informationen über ihr Schicksal, doch angesichts der sich zuspitzenden Lage um illegale Einwanderung an der polnisch-belarussischen Grenze lag von Anfang an die Vermutung nahe, dass die Toten Migranten sind.
Einer der Verstorbenen war Medienberichten zufolge Iraker. Er soll mit zwei anderen Männern auf polnischem Gebiet mehr als zehn Kilometer von der litauischen Grenze entfernt von Pilzsammlern entdeckt worden sein. Die sollen sofort einen Rettungswagen gerufen haben, doch der Migrant starb noch vor Ort; seine Begleiter seien in "mittelmäßig gutem Zustand" in Krankenhäuser gebracht worden, teilte ein Arzt dem Privatsender TVN24 mit.
Polens Innenminister Mariusz Kaminski berief sich auf die zwei Begleiter des verstorbenen Mannes bei seiner Darstellung, sie alle seien Mitte September nach Minsk gekommen und hätten für 2500 Dollar pro Person nach Deutschland gebracht werden sollen. Nachdem sie in Polen abgesetzt worden seien, hätten sie sich in einem Waldgebiet verirrt und nach Minsk zurückfinden wollen - doch die belarussischen Behörden hätten sie gezwungen, wieder in Richtung der polnischen Grenze zu ziehen.
Drogen für Migranten?
Nach einem weiteren Versuch, nach Minsk zurückzukehren, seien sie wiederum in einer Gruppe von ungefähr 20 Menschen an die litauische Grenze gebracht worden, so die Migranten weiter; unweit des Dreiländerecks seien sie dann erneut auf polnisches Territorium gelangt. Der später verstorbene Mann soll sich auffallend verhalten haben. Bei seinen Mitreisenden sei der Verdacht aufgekommen, er stünde unter Drogen.
Tomasz Praga, Leiter des polnischen Grenzschutzes, kündigte an, es werde genau geprüft, ob es ein Zufall war, dass so viele Menschen auf einmal starben. Die Ergebnisse müsse man abwarten. Auf Nachfrage präzisierte Polens Innenminister, die Hinweise müssten noch überprüft werden, aber die zwei Begleiter des Verstorbenen hätten erzählt, dieser hätte von einem belarussischen Soldaten eine Tablette erhalten für den Fall, dass ihm kalt werden würde; nun solle die Obduktion diesbezüglich Klarheit schaffen.
Eine Tote in Belarus?
Über die zwei anderen Verstorbenen ist hingegen so gut wie nichts bekannt. Tomasz Praga wies zudem darauf hin, dass die drei Toten auf polnischem Boden nicht die einzigen Opfer des vergangenen Wochenendes gewesen seien: Der polnische Grenzschutz habe auf belarussischer Seite der Grenze eine Gruppe von Migranten bemerkt und neben ihnen eine auf dem Boden liegende Frau. Erst nach mehreren Kontaktversuchen hätten die belarussischen Behörden reagiert. Minsk behauptet, die Frau sei illegal von Polen nach Belarus eingereist.
Darüber hinaus berichten die polnischen Behörden über weitere Vorfälle. So sei eine schwangere Frau mit 13 Kindern angehalten worden, die nicht ihre eigenen gewesen sein sollen. Einige der Minderjährigen seien mit Corona infiziert gewesen und in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Eine weitere Gruppe von acht Migranten sei aus einem Sumpf gerettet worden. Eine Sprecherin des Grenzschutzes wies am Wochenende darauf hin, dass an der Rettungsaktion nicht nur Grenzschützer, sondern auch Soldaten, Feuerwehrleute, Polizisten und ein Luftrettungshubschrauber beteiligt gewesen seien.
"Wir lassen uns nicht erpressen"
Immer deutlicher spricht die polnische Regierung von "organisierten Handlungen (des belarussischen Machthabers; Anm. d. Red.) Lukaschenkos" mit dem Ziel einer Destabilisierung an der polnisch-belarussischen Grenze. Laut polnischen Behörden wurden im September bisher 4000 illegale Versuche von Grenzübertritten verzeichnet. Schon im August waren es über 3000 gewesen - mehr als im gesamten Jahr 2020.
"Wir haben es mit einer massiven organisierten Aktion zu tun, die in Minsk und Moskau gut gesteuert wird", verkündete Polens Regierungschef Morawiecki. Er verwies dabei auf Aufnahmen von Kameras und Drohnen, anhand derer man "absolut sicher" sagen könne, dass Migranten mit Hilfe des belarussischen Grenzschutzes an die polnische Grenze transportiert werden würden.
Von Moskau gesteuert?
"Wir wissen, dass diese Aktion aus Moskau gesteuert wird", erklärte Morawiecki zudem und fügte hinzu, zehntausende Menschen würden nach Belarus geholt, um dann an die polnisch-belarussische Grenze gebracht zu werden. Die polnische Grenze werde durch "zusätzliche Sicherheitsinstallationen" verstärkt und auch der Anfang September ausgerufene Ausnahmezustand entlang im Grenzgebiet zu Belarus solle der Sicherheit dienen. "Wir lassen uns nicht erpressen und werden die Grenze immer besser absichern", kündigte Morawiecki an. Dabei gehe es nicht nur um die Sicherheit Polens, sondern auch um die der EU.
Als zusätzlichen Aspekt, der die Lage verschärfen könnte, nannte die polnische Regierung den in der vergangenen Woche durch Belarus eingeführten visafreien Verkehr mit Jordanien, Ägypten, Pakistan und Südafrika. Der könnte laut Innenminister Mariusz Kaminski dazu führen, dass noch mehr Migranten an der östlichen Grenze Polens auftauchen. "Dies deutet darauf hin, dass die Gegenseite vielleicht beschlossen hat, diese Krise über Monate hinweg schwelen zu lassen", so Kaminski.
Wird der Ausnahmezustand verlängert?
Der derzeit geltende Ausnahmezustand im Grenzgebiet wurde für 30 Tage ausgerufen und betrifft 183 Orte in der Region. Seitdem können auch Journalisten sich kein eigenes Bild von der Situation vor Ort mehr machen und unabhängig berichten.
Auf die Anregung eines Journalisten, ob es nicht doch sinnvoll wäre, Medienvertreter vor Ort ihre Arbeit machen zu lassen, damit sie zum Beispiel nicht auf die Berichte und Fotos der belarussischen Seite angewiesen seien, erklärte der polnische Innenminister: "Ich weiß nicht, wieso Sie denken, dass sich Dutzende Journalisten in einem sehr schmalen Grenzstreifen aufhalten sollen, in so einem schwierigen und gefährlichen Moment, in dem bewaffnete Soldaten auf beiden Seiten ihre Aufgaben ausführen."
Seiner Meinung nach ist die Berichterstattung "aus einem Kilometer Entfernung" keine Unbequemlichkeit, sondern eine Frage der Vernunft und Verantwortung. Doch nicht nur Medienvertreter, sondern auch Hilfsorganisationen beklagen, dass sie das Schicksal der Migranten kaum noch verfolgen und den Betroffenen nicht mehr helfen können.
Situation und Zustand der Migranten dürfte mit den sinkenden Temperaturen nicht einfacher werden. Im Osten Polens fällt die Temperatur derzeit nachts mancherorts bis auf drei Grad. In den nächsten Tagen will die polnische Regierung entscheiden, ob der Ausnahmezustand verlängert wird. Bislang deutet alles darauf hin.