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Tierversuche: Geheuchelte Entrüstung

20. Oktober 2019

Panische Affen, blutende Hunde – die Bilder aus dem Tierversuchslabor LPT sind schrecklich, die Entrüstung groß. DW-Autorin Julia Vergin findet die Aufregung zwar verständlich, vor allem aber auch scheinheilig.

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Affe klammert sich an die Gitterstäbe seines Käfigs in einem Tierversuchslabors
Bild: picture alliance/blickwinkel/J. S. Peifer

Ich bin überzeugt: Würden im Laboratory of Pharmacology and Toxicology (LPT) bei Hamburg nicht Hunde, Katzen und Affen gequält, sondern Ratten, Mäuse und Fische, hätte mich niemand beauftragt, diesen Text zu schreiben.

Doch die heimlich gemachten Aufnahmen der Beagles in ihren blutverschmierten Zwingern und der am Hals fixierten, panischen Affen in ihren viel zu kleinen Käfigen, scheint an keinem Redakteur spurlos vorbeizugehen. Darüber müssen wir berichten. Also schaue ich mir das Material an – und heule erst mal.

Gleichzeitig werde ich wütend. Nicht nur auf diejenigen, die im LPT sogar auf die Mindeststandards der Lebensbedingungen für Labortiere pfeifen. Auch auf die, die sich nach gebührender Empörung über so viel Unmenschlichkeit die Nürnberger Rostbratwürstchen mit Sauerkraut und Speck für 3,30 Euro in der Kantine genehmigen.

Mehr dazu: Ein wahrer Tierfreund isst keine Tiere

Wer leidet denn hier?

Obwohl sich das Leid der Kühe, Schweine und Hühner in Massentierställen höchstens marginal von dem der LPT-Tiere unterscheiden dürfte. Aber: Wie sehr uns Tierquälerei empört, hängt zuallererst davon ab, welche Tiere gequält werden.

2017 wurden mindestens 1,5 Millionen Mäuse und Ratten für Tierversuche eingesetzt. Das ist den aktuellsten Zahlen zu Tierversuchen des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) zu entnehmen. Damit machen die kleinen Nager den Großteil der Versuchstiere aus. Interessiert das jemanden?

Mehr dazu: Eindrücke aus dem Tierversuchs-Labor

Während Hund und Katze im Laufe der Menschheitsgeschichte zu Familienmitgliedern befördert wurden, haben es Kühe und Schweine nicht über ihr Dasein als wandelnde Mahlzeit hinaus geschafft. Ratten und Mäuse wiederum haben ihre Bestimmung als Labortiere gefunden. Wir unterscheiden zwischen niedlich, lecker und nützlich. Speziesismus nennt sich das.

Infografik Versuchstiere in Deutschland 2017

Johann Ach, Leiter des Zentrums für Bioethik an der Universität Münster, teilt meinen Eindruck, dass wir bestimmten Tierarten generell mehr Mitgefühl zukommen lassen als anderen. "Das ist natürlich in keiner Weise berechtigt, denn im einen wie im anderen Fall handelt es sich um empfindungs-, schmerz- und leidfähige Kreaturen", sagt Ach.

Homo sapiens first!

Als Philosoph und Bioethiker beschäftigt sich Ach mit einer ganz grundsätzlichen Frage: Dürfen wir Tiere für unsere Zwecke nutzen? Und wie weit dürfen dabei gehen?

Das müsste doch im Tierschutzgesetz geregelt sein. Hofft man. Tatsächlich steht in dem Gesetz: Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leid oder Schäden zufügen. Fragt sich nur, was ein "vernünftiger Grund" sein soll?

Das weiß niemand so genau. "Es handelt sich dabei um einen sogenannten unbestimmten Rechtsbegriff, der auslegungsbedürftig und auslegungsfähig ist", sagt Ach. Das heißt, was im Einzelfall ein vernünftiger Grund und damit eine Rechtfertigung für Gewalt am Tier ist, entscheiden Juristen immer wieder neu.

Ein Rhesus-Affe mit einem Implantat wird von einem Tierpfleger gefüttert.
Tierethiker fordern eine grundsätzliche Reform des Tierschutzgesetzes. Eine, die das Tier tatsächlich schützt.Bild: picture-alliance/dpa/M. Murat

Ach bezeichnet die Formulierung des Tierschutzgesetzes als Einfallstor für eine Behandlung von Tieren, die mit ethischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. "Die gegenwärtige Auslegung des 'vernünftigen Grundes' läuft darauf hinaus, dass so gut wie jedes ökonomische Interesse als Rechtfertigung ausreicht."

An der Formulierung unseres Tierschutzgesetzes zeigt sich eine weitere Form des Speziesismus: Der Mensch steht grundsätzlich über dem Tier. Mag es noch so niedlich sein. Und im Zweifel hat das Tier dem Mensch zu dienen – ob als Leckerbissen oder als Testobjekt zu wissenschaftlichen Zwecken. Nun sind wir mittendrin in der tierethischen Debatte, sagt Ach.

Vollkommen sinnloses Leid?

Gerade wenn es um die hehren Ziele der Wissenschaft geht, um die Erforschung der komplexen Funktionsweise von Gehirn- und Kreislauffunktionen oder Entwicklung wichtiger Medikamente, zweifeln nur wenige an der Notwendigkeit von Tierversuchen. Und wenn es super wichtig ist, dann müssen eben auch Hunde und Affen ran. Es geht schließlich um das Wohl des Menschen!

Johann Ach ist Vertreter einer egalitären tierethischen Position: Die Interessen von menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen sollten dabei gleichermaßen berücksichtigt werden. Was bedeutet das? "Wir müssten bei jedem Tierversuch schauen, ob er speziesistisch motiviert ist, indem wir uns fragen, ob wir denselben Versuch auch mit einem Mensch machen und für gerechtfertigt halten würden."

Eine Maus klettert aus einem Labor-Glas
"Mäuse empfinden ebenso Schmerzen und Angst wie Hunde und Affen", sagt die Tierärztin Gaby NeumannBild: imago/Westend61

Für die Tiere bedeuten Tierversuche immer Leid, sagt Tierärztin Gaby Neumann, die auch Pressesprecherin des Vereins "Ärzte gegen Tierversuche" ist. Selbst dann, wenn sie nicht – wie im LPT – zusätzlich gequält werden. Dabei leidet der Hund nicht mehr als der kleine Nager, an dem in Deutschland am allerliebsten herumexperimentiert wird. "Gerade Mäuse sind Fluchttiere, die schon Stress haben, wenn sie einfach nur gehalten werden."

Gemäß dem Grundsatz "Homo sapiens first" sind Tierversuche trotzdem fester Bestandteil der wissenschaftlichen Forschung. Die Initiative "Tierversuche verstehen" versucht zu erklären, warum die Versuche in bestimmten Bereichen unentbehrlich sind.

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Menschen sind keine Mäuse

Neumann hält dagegen: "Viele Studien belegen, dass die Übertragbarkeit der Ergebnisse vom Tier auf den Menschen sehr schlecht ist", sagt die Veterinärmedizinerin und nennt beispielhaft die verschiedener Alzheimermedikamente. Diese zeigten sich in Tierversuchen zwar wirkungsvoll, die klinischen Tests an alzheimererkrankten Menschen mussten jedoch aufgrund mangelnder Wirksamkeit abgebrochen werden. Eines der Mittel beschleunigte den Krankheitsverlauf sogar.

Der Verein "Ärzte gegen Tierversuche" hat die wissenschaftlichen Argumente gegen Tierexperimente gesammelt und stellt alternative Testmethoden vor, mit denen bereits viele wichtige biomedizinische Erkenntnisse gewonnen werden konnten, erzählt Neumann. Das Problem sei, wie so oft, das Geld. Davon bekommt die Forschung mit Tierversuchen viel, in die neuen, tierversuchsfreien Alternativen wird hingegen wenig investiert.

Selbst für diejenigen, die die Privilegierung des Menschen für ein Gott gegebenes Recht halten und sich wenig bis gar nicht um das Wohl von Tieren scheren, gibt es laut Neumann keine guten Gründe, an Tierversuchen festzuhalten. "Wir sind einfach keine 70 Kilogramm schwere Maus."

Ob aus wissenschaftlicher oder ethischer Sicht: "Ich verstehe nicht, warum weiterhin an einer Methode festgehalten wird, die dem vorletzten Jahrhundert entspringt." Neumann klingt ehrlich empört.