30 Jahre "The Wall" am Potsdamer Platz
20. Juli 2020Berlins Potsdamer Platz ist für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ein symbolträchtiger Ort. In der aufstrebenden Weltstadt Berlin der 1920er Jahre entwickelt er sich nicht nur für den zunehmenden Verkehr zum Dreh- und Angelpunkt, sondern auch für die kosmopolitische und innovative Kulturszene der Stadt.
Wenige Jahre später ist davon wenig übrig: Der Potsdamer Platz wird im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört, unter den Trümmern entzieht sich Hitler mit seinem Selbstmord im Führerbunker der Gerichtsbarkeit der alliierten Siegermächte. Doch damit nicht genug: Auch die sich anschließende deutsche Teilung findet wortwörtlich auf dem Platz statt - er wird zur Sperrzone im Niemandsland der Berliner Mauer. Insofern kann man die Bedeutung von Ort und Zeitpunkt gar nicht hoch genug einschätzen, wenn es um das legendäre "The Wall"-Konzert geht, das Roger Waters von Pink Floyd am 21. Juli 1990, also im Jahr der deutschen Wiedervereinigung, eben hier auf dem Potsdamer Platz inszenierte.
Gemeinsamer Erlebnisraum durch Konzert
"Kein Reichsparteitag wird hier vorbereitet, auch kein Vereinigungskonvent zweier Schwesterparteien aus Ost und West", schreibt der Spiegel 1990 in seiner Vorberichterstattung zu dem Konzert und verweist damit auf den sonstigen Impetus deutscher Großveranstaltungen im 20. Jahrhundert. Stattdessen also ein Benefizkonzert mit gigantischem Ausmaß, das am 21. Juli vor genau 30 Jahren aufgeführt wurde: Der mehr als vierwöchige Aufbau der 168 Meter langen und 41 Meter tiefen Megabühne beschäftigte rund 600 Menschen, 220.000 Karten sollen im Vorfeld verkauft worden sein. Kräne standen für das Manövrieren riesiger Marionettenfiguren ebenso bereit wie mehrere Helikopter, eine Blaskapelle der Roten Armee und Musikgrößen wie Bryan Adams, Cyndi Lauper oder die Scorpions als Mitwirkende.
Und doch waren es die leiseren Töne, die besonders nachhallten: "What shall we use to fill the empty spaces where we used to talk?", fragt Pink, der Protagonist des als Rock-Oper gestalteten Albums in dem Lied "Empty Spaces", und trifft mit dieser Frage mitten ins geteilte deutsche Herz: Wie könne man sich nach so vielen Jahren der Trennung und Systemkonfrontation zwischen Ost und West überhaupt noch verständigen? Die versuchte Antwort des Konzerts ist 30 Jahre später eine eindeutige: Indem das gigantische Rockspektakel mit 350.000 Fans im Publikum - die Tore waren nach enormem Andrang aus Sicherheitsgründen geöffnet worden - und hunderten Millionen Zuschauern vor den Fernsehern den in Deutschland neu entstandenen, gemeinsam erlebbaren Erfahrungsraum vorführt.
Album bricht Rekorde
Dass dies so gut funktionieren würde, war nicht selbstverständlich. Denn das Album war 1990 schon elf Jahre alt. Im November 1979 auf den Markt gekommen, markierte es eine Stilwende in der Musik von Pink Floyd, was seinem Erfolg aber keinen Abbruch tat: Vor dem Konzert in Berlin war es schon 19 Millionen Mal verkauft, in den USA, in London und Dortmund insgesamt 31 Mal aufgeführt sowie 1982 mit Bob Geldof in der Hauptrolle verfilmt worden. Bis heute hält "The Wall" den Rekord als meistverkauftes Doppelalbum und gehört weiterhin zu den 30 erfolgreichsten Alben überhaupt.
Dieser Erfolg des Albums, für das Roger Waters die meisten Lieder schrieb, führte gleichzeitig auch zu seinem Austritt aus der Band. Der Sänger und Bassist beanspruchte die alleinige künstlerische Kontrolle, es kam zum Streit, Waters verließ die Band 1985. Als er darauf in einem Interview gefragt wurde, ob er die Rock-Oper noch einmal in Gänze aufführen würde, antwortet er mit einem für die damalige Zeit klaren "Nein": Wenn in Berlin die Mauer fiele, dann könne man darüber ja vielleicht mal nachdenken. Fünf Jahre später aber war das Unvorstellbare Wahrheit geworden, und postwendend erreichte Waters eine Anfrage. Die britische Stiftung "Memorial Fund for Disaster Relief", ein Jahr zuvor für das Sammeln von Spenden für die Katastrophenhilfe ins Leben gerufen, plante ein Benefizkonzert.
Erinnerungen und Geschichte als zentrale Themen
Waters suchte sich also eine Band, die seine ehemaligen Pink-Floyd-Kollegen musikalisch ersetzte, und spielte vor 30 Jahren das legendäre Konzert, bei dem es um mehr als "nur" die Musik ging. Das wird etwa in Waters "Another Brick In The Wall, Part 1" deutlich, der kleinen Schwester des vielleicht berühmtesten Pink-Floyd-Songs ("Another Brick In The Wall, Part 2"). Protagonist Pink denkt darin an seinen nicht aus dem Krieg zurückgekehrten Vater: "Daddy's flown across the ocean, leaving just a memory." Diese Erinnerung wird in Form eines Styroporziegels visualisiert, der zusammen mit anderen Traumata und Erinnerungen eine wachsende Mauer bildet: "All in all it was just a brick in the wall."
Und auch wenn diese symbolische Mauer aus Traumata und Erinnerungen ganz verschiedene Möglichkeiten der Deutung anbietet, gibt es für das Konzert 1990 in Berlin eigentlich nur die eine: 168 Meter lang und 25 Meter hoch stand die riesige Mauer-Installation stellvertretend für die schmerzhaften Erinnerungen, auseinandergerissenen Biografien und Lebensrealitäten sowie die ideologische Selbstisolation in der deutschen Geschichte. Insofern lässt sich das Ende des Konzertes auch als historische Gruppentherapie für das wiederzuvereinende Deutschland verstehen.
Als die gigantische Mauer nach zweistündiger Show auf das Stichwort "tear down the wall" eingerissen wurde, feierte die riesige Menge das frenetisch. Vergessen waren die teilweise gravierenden technischen Pannen mit Stromausfällen und miserabler Soundqualität, sie waren lästiges Beiwerk eines historisch viel größeren Schauspiels: Die in dem Ereignis geeinte Masse auf dem Potsdamer Platz und vor den Bildschirmen hatte nicht nur ein gigantisches Rockspektakel erlebt, sondern vollzog noch einmal gemeinsam den Fall der Berliner Mauer.