Drogenlieferung vom IS oder von Assad?
8. Juli 2020Es war die nach eigenen Angaben weltweit größte Drogenrazzia, die die Behörden in der vergangenen Woche in Italien starteten. Was die Beamten bei den Durchsuchungen finden, hat Guardia di Finanza auf einem Video veröffentlicht. Darauf ist zu sehen, wie die Einsatzkräfte der dem Wirtschafts- und Finanzministerium unterstellten Ermittlungseinheit für Finanzkriminalität und Schmuggel mit Kreissägen Löcher in Industriepapierzylinder schneiden. Tausende Tabletten, die von der Polizei später als Amphetamin-Derivat Fenetyllin (Captagon genannt) identifiziert werden, fallen aus den Löchern und füllen Dutzende große Container. Insgesamt stellen die Beamten 84 Millionen Tabletten mit einem Gewicht von rund 14 Tonnen sicher. Eine Menge, mit der man fast ganz Europa mit Fenetyllin versorgen könnte. Geschätzter Wert: eine Milliarde Euro.
Bemerkenswert an dem Fund sind nicht nur die Größe, sondern auch die Erkenntnisse über die Herkunft. Die Guardia di Finanza vermutet die Terrorgruppe "Islamischer Staat" in Syrien hinter der Lieferung. Alle Amphetamintabletten tragen demnach das Symbol des „Captagon", das die vom IS hergestellte 'Dschihad-Droge' kennzeichnet. IS-Kämpfer nutzen die Tabletten, um während der Kämpfe wach zu bleiben und weder Angst noch Schmerz zu empfinden – auch der Spitzname "Captagon" stammt vom IS.
Zweifel an den Hintergründen der Lieferung lassen die Behörden zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht erkennen: "Es ist bekannt, dass der IS seine eigenen terroristischen Aktivitäten vor allem über den Drogenhandel finanziert. Synthetische Drogen werden in großem Umfang in Syrien hergestellt. Das Land ist durch den IS zum weltweit größten Hersteller von Amphetaminen geworden", heißt es in einem Bericht.
Unwahrscheinlich, dass der IS so viel produzieren könnte
Doch Terror- und Syrien-Experten haben Zweifel an dieser These. Der IS hat seit dem Höhepunkt seiner Ausbreitung im Jahr 2014 fast sein gesamtes Territorium verloren - und die Anzahl seiner Terrorkämpfer ist massiv geschrumpft. Charles Lister, Direktor des Syrien-Programms des Middle East Institute in Washington meldete via Twitter ebenfalls Zweifel an: "Diese Geschichte passt überhaupt nicht zusammen...".
Aymenn Jawad al-Tamimi, ein Syrien-Experte an der Universität Swansea, sagte der DW, dass "angesichts der derzeit begrenzten Fähigkeiten der Gruppe auf der Herstellungsebene [es] unwahrscheinlich erscheint, dass sie derzeit so große Mengen des Medikaments hergestellt haben könnten".
Kriegsreporterin und Senior Fellow am Jackson Institute for Global Affairs der Universität Yale, Janine di Giovanni, äußerte ähnliche Zweifel. "Ich kann nur sagen, dass es höchst unwahrscheinlich erscheint, dass der IS einen solchen Drogenvorrat produzieren könnte, wenn man bedenkt, dass sie, mit den Worten eines meiner Kollegen, 'in Höhlen in Syrien und im Irak leben'", schreibt die Wissenschaftlerin der DW.
Italienischer Ermittler macht 'Kommunikationsproblem' verantwortlich
Auch andere Angaben der Guardia di Finanza machen stutzig. Angeblich soll das "Captagon" von Latakia an der syrischen Mittelmeerküste aus verschifft worden sein. Doch die Hafenstadt ist weit entfernt von Gebieten, die der IS kontrolliert. Während des gesamten Bürgerkriegs war Latakia stets unter Kontrolle der Truppen von Präsident Baschar al Assad.
Nach einer Nachfrage der DW haben die italienischen Behörden ihre Aussagen korrigiert: "Im Moment können wir noch nicht bestätigen, dass die Drogen vom IS in Syrien hergestellt wurden. Die Untersuchungen laufen noch ", so Oberst Giuseppe Furciniti, Leiter der Ermittlungsgruppe für organisierte Kriminalität der Guardia di Finanza.
"Ich weiß nicht, warum der Titel der Pressemitteilung so lautet. Es muss hier ein Kommunikationsproblem gegeben haben", so Furciniti gegenüber der DW. Damit widersprach er einer früheren Aussage, wonach der IS die Drogen in Syrien hergestellt hat.
Schwunghafter Drogenhandel
Unbestritten ist allerdings, dass der IS in Drogenverkäufe involviert ist. Die Terrororganisation produziert die Tabletten für ihre eigenen Kämpfer und verdient mit dem Export der Drogen in den gesamten Nahen Osten viel Geld. Laut Weltdrogenbericht 2020 der Vereinten Nationen sind der Nahe Osten und insbesondere Saudi-Arabien bei weitem der größte Markt für die Pillen, die oft aus Amphetaminen und Koffein gemischt werden.
Doch die Terrororganisation ist bei weitem nicht die einzige dominierende Macht im Drogengeschäft. Auch andere kriminelle Banden und die libanesische Hisbollah-Miliz werden mit "Captagon" in Verbindung gebracht. "In den vergangenen Jahren lagen die Hauptproduktionsstätten definitiv im Libanon und in Syrien", so Thomas Pietschmann, leitender Forschungsbeauftragter des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung.
"Ob es hauptsächlich vom IS oder einer der vielen anderen Gruppen kam, stand immer zur Debatte. Es ist nicht nur der IS, sondern eine beliebige Anzahl von Gruppen, die die Drogen herstellen und vertreiben können."
Fingerzeig auf Assads Regime
Ein großer Teil der Drogenproduktion der jüngsten Zeit ist aus Latakia verschifft worden. Im Februar wurden 5,6 Tonnen "Captagon"-Tabletten gefunden, die in einer Lieferung von Stromkabeln nach Dubai versteckt waren. Im Juni vergangenen Jahres stoppten die griechischen Behörden eine Lieferung von 33 Millionen Tabletten, die in Holzpaletten versteckt waren und ebenfalls aus Latakia verschifft worden waren.
Die Menge der verschifften "Captagon"-Tabletten, der Herkunftshafen und die Methoden, mit denen versucht wurde, die Pillen zu verstecken, lassen den Verdacht auf das Regime von Präsident Assad aufkommen.
Laut dem deutschen Wochenmagazin "Der Spiegel" betreibt Assads Onkel, Samer Kamal Assad, in einem Dorf südlich von Latakia mehrere als Verpackungsunternehmen getarnte "Captagon"-Fabriken. Die Papierzylinder, in denen die Pillen enthalten sind, sollen in einer kürzlich in Aleppo errichteten Fabrik hergestellt worden sein, so dass ihre Adresse noch nicht auf Sanktionslisten steht.
Auf die Frage der DW, ob das Assad-Regime für die Drogenlieferung verantwortlich sein könnte, verneinten die italienischen Behörden. Man habe dazu derzeit keine Anhaltspunkte.