Teheran fürchtet Lehrerproteste
1. Oktober 2021Aziz Ghasemzadeh ist Sprecher der Lehrergewerkschaft in der iranischen Nordprovinz Gilan. Er gab am vergangenen Sonntag einem persischsprachigen Sender im Ausland ein Interview, als er verhaftet wurde - bei eingeschalteter Kamera seines Smartphones. Deswegen gibt es Aufnahmen von der Festnahme in seinem Elternhaus, man hört die Stimme seiner Mutter, die die Beamten anfleht, ihren Sohn nicht mitzunehmen. Vergeblich, Ghasemzadeh wurden mit gefesselten Händen und verbundenen Augen abgeführt.
"Gewerkschaftsaktivisten wie Aziz Ghasemzadeh wird 'Gefährdung der nationalen Sicherheit' vorgeworfen. Die Behörden gehen mit aller Härte gegen sie vor", sagt der Menschenrechtsanwalt Saeid Dehghan der DW. "Ghasemzadeh ist Lehrer und ein angesehener Musiker und Sänger. Er ist ein gebildeter und kultivierter Mensch, der sich friedlich für mehr soziale Gerechtigkeit und bessere Arbeitsbedingungen einsetzt. Das ist laut unserer Verfassung nicht verboten."
Furcht des Regimes
Der Anwalt aus der Hauptstadt verteidigt politische Gefangene im Iran. Deghan ist besorgt über die willkürliche Verhaftung der Aktivisten. Man wolle sie einschüchtern, bevor sie sich organisieren könnten. "Die allgemeine Unzufriedenheit im Iran ist sehr groß und jede Protestaktion hat das Potential, viele Menschen gegen das politische System zu mobilisieren. Deswegen muss aus Regierungssicht jeder Protest im Keim erstickt werden."
Aziz Ghasemzadeh hatte einen Tag vor seiner Verhaftung auf einer Protestkundgebung eine Rede gehalten, unmittelbar vor Beginn des neuen Schuljahrs im Iran. Ähnliche Aktionen fanden in mehr als 40 Städten statt. Es ging um bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne für die Lehrkräfte, also Angestellte des Bildungsministeriums. Viele von ihnen haben seit Monaten kein Gehalt bekommen. Erst im März 2021 hatte die vergangene Regierung unter Präsident Rohani nach langen Verhandlungen zugestimmt, die Lehrergehälter an die wirtschaftliche Situation des Landes anzupassen.
"Gerechte Forderungen"
Zwischen 20 und 27 Prozent sollten ihre Gehälter steigen. Allerdings lag die Inflationsrate im Iran 2020 bei 36,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Für das Jahr 2021 wird eine Steigerung von fast 40 Prozent erwartet. Die Durchschnittskosten für die Lebenshaltung sind allein im letzten Jahr nach Angaben der iranischen Statistikbehörde um über 30 Prozent gestiegen. "Wir verlangen unsere Rechte", hatte Aziz Ghasemzadeh in seiner Rede betont, die rasch im Netz verbreitet wurde. Die Aktivisten forderten nicht nur eine gerechte Bezahlung, sondern auch dringend benötigte Investitionen in die Modernisierung der maroden Schulgebäude sowie mehr Personal.
"Die politisch Verantwortlichen glauben mit der Verhaftung von Gewerkschaftsaktivisten das Problem lösen zu können. Sie liegen falsch. Wir werden nicht aufgeben", kündigte Ghasemzadeh in seiner Rede an. Jetzt ist er selbst einer von mindestens 15 inhaftierten iranischen Lehrerinnen und Lehrern, die wegen ihrer Gewerkschaftsarbeit hinter Gittern sitzen.
Einer der bekanntesten von ihnen ist der Mathematiklehrer Esmail Abdi. Das Vorstandsmitglied der Teheraner Lehrer-Gewerkschaft sitzt seit November 2016 im Gefängnis, mit der standardmäßigen Begründung: "Sammlung von Informationen mit dem Ziel, die nationale Sicherheit zu gefährden" und "Propaganda gegen das politische System".
Verstoß gegen internationale Verpflichtungen
Der internationale Gewerkschaftsbund Education International hat bereits mehrfach die Freilassung von Esmail Abdi gefordert und zu weltweiter Solidarität mit ihm und anderen im Iran inhaftierten Lehrern aufgerufen. Der Iran ist Vertragsstaat des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Dort ist das Recht jeder Person garantiert, Gewerkschaften nach freier Wahl zur Förderung und zum Schutz ihrer wirtschaftlichen und sozialen Interessen zu gründen und diesen beizutreten. Mit anderen Worten: Die Machthaber im Iran verstoßen gegen ihre internationalen Menschenrechtsverpflichtungen.
"Weil sie keine ernsthaften Konsequenzen fürchten müssen", sagt Raha Bahreini, Iran-Expertin von Amnesty International der DW. Bahreini verweist auf den eigens von den UN bestellten Sonderberichterstatter für die Menschenrechtslage im Iran, der die Menschenrechtsverletzungen in dem Land dokumentiere. "Wir fordern einen internationalen Mechanismus, um die Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzung im Iran zu identifizieren und die Akten öffnen zu lassen, um die Betreffenden irgendwann vor Gericht stellen zu können", so die Iran-Expertin von Amnesty International.